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Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Titel: Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Verschwinden des Kindes alles hochspülte, was normalerweise sicher verstaut auf dem Grund des Gemeinschaftsgedächtnisses lag. In diesen Tagen aber blubberte der Schlamm und sonderte giftige Blasen ab.
    Die alten Geschichten begannen ihn brennend zu interessieren. Ob Gregor Kosinski mehr wußte? Der alte Fuchs ließ sich überhaupt nicht mehr blicken, seit er pensioniert war und sich die Zeit mit einer Art Chronik des Kreises vertrieb.
    Mit Schwung nahm er den Anstieg zur Landstraße und wurde erst langsamer, als er oben war. In der Ferne die Rotoren des Windparks. Dahinter dunkle Tannenwälder. Und darüber ein winzig kleines Dreieck, rot leuchtend. Ein Drachenflieger in der Vormittagssonne.
    »Vergessen ist Gefahr und Gnade zugleich.« Irgend jemand hatte das mal gesagt, es war einer dieser Sätze, die ihm im Gedächtnis geblieben waren – vielleicht, weil er den Satz erst verstand, seit er in Klein-Roda wohnte. Im Dorf gab es keine Gnade des Vergessens. In einer kleinen Gemeinschaft mußte man gewaltsam unter der Oberfläche halten, was, wenn es gegenwärtig bliebe, das empfindsame Gewebe des Zusammenlebens zerstören würde. Nicht, daß sie verdrängt, konnte man der Landbevölkerung vorhalten, wie die Schlaumeier glaubten, sondern daß sie sich zu gut erinnert.
    Die Erinnerung war eine Erzählung, die von den Älteren begonnen und von den Jüngeren aufgenommen wurde, und ihre Eckdaten waren nicht die großen Ereignisse der Weltgeschichte: Der erste Sputnik. Kennedys Ermordung. Der Bau der Mauer und ihr Fall 28 Jahre später. In Klein-Roda memorierte die große Erzählung Hochzeitstage und Beerdigungsfeiern, Geburt und Tod. Ein alter Mensch stirbt, ein Kind wird geboren. Allein deshalb kam Paul Bremer in der Erzählung seines Dorfes nicht vor. Er war nun mal nicht von hier.
    Er beugte sich über den Lenker und ließ sich den Hang hinuntertragen. Alarmiert schreckten zwei Pferde hoch, die sich auf der Koppel ausgiebig im Schlamm wälzten. Als er ihnen zuwinkte, sprangen sie auf und galoppierten los, erst, als ob sie Angst hätten, und dann, als ob es ihnen Spaß machte, mitzulaufen mit dem Verrückten da vorne auf der Straße.
    Du wirst immer ein Fremder bleiben, dachte Bremer. Und das hat seine unschätzbaren Vorzüge. Denn auch Nachbarschaftszwist ist fest eingewoben in die Geschichte und Geschichten; Kränkungen, vor Generationen zugefügt und nie vergessen. Er hatte da nicht viel zu bieten. Sophie Winter und ihr Haus aber hatten sich in die Erzählung eingeschrieben.
    Warum Sophie? Sie kam nicht von hier. Daß das Haus eine Rolle spielte, war eher zu verstehen. Solange es leer stand und verkam, erinnerte es an die dunkle Geschichte der Siedlung, die Heinrich Brauers Schicksal geworden war. Und in Sophies Haus hatte er seinem Leben ein Ende gemacht. Weil er pleite war? Oder weil man ihn und sein Projekt abgelehnt hatte?
    »Wer hoch hinauswill, fällt tief«, pflegte Gottfried zu sagen. Wer etwas wagt, beißt bei euch auf Granit, pflegte Bremer zu denken. Doch wahrscheinlich wäre Heinrich Brauer auch ohne sein Bauprojekt insolvent geworden, die Weltwirtschaftskrise knickte frisch erworbenen Reichtum millionenfach. Doch das war fast achtzig Jahre her.
    Er trat langsamer in die Pedale, winkte Willi zu, der Gülle ausgefahren hatte und mit tropfendem und stinkendem Tank zurück nach Klein-Roda dieselte, und wich dem Fußball aus, der auf die Straße rollte, zwei kleine dunkelhaarige Jungs im Kielwasser.
    Was hatte man gegen Sophie? Sie wohnte erst seit weniger als einem Jahr in der Siedlung, man kannte sie kaum, und sie war in das enge Netz der Nachbarschaft nicht eingebunden; warum also löste sie bei Marie so starke Emotionen aus? Verdächtigte sie ernstlich Sophie Winter, im Falle von Lucas Verschwinden die Finger im Spiel zu haben? Was wäre das Motiv?
    Ein sexuelles? Nein, dafür waren Frauen tatsächlich nicht bekannt.
    Bremer grüßte eine Frau, die sich mit der zögernden Bewegung einer Hüftkranken über die Straße mühte, einen müden Boxer hinter sich herziehend, und bog in den Auenweg ein. Als er vor Sophie Winters Haus angelangt war, wußte er nicht mehr genau, was er sie hatte fragen wollen. Bis ihm wieder einfiel, daß er dem Notarzt versprochen hatte, ihm die persönlichen Daten seiner Patientin und den Namen der Krankenkasse zu übermitteln. Er öffnete die Gartentür und ging zum Haus. Die Glasscherben lagen noch immer vor dem Fenster neben der Haustür. Als wäre etwas von innen

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