Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
dem Haus von Gottfried und Marie. Er blinzelte hinüber. Dort oben saß ein kleiner schwarzer Kerl und schnalzte und schmalzte vor sich hin, klang mal wie ein Paar Gummisohlen auf glattem Parkett, mal wie ein zufriedenes Weidepferd. Das war keine Amsel, die waren keine Seltenheit. Es war ein Star. Der erste Star.
Bremer ließ sich auf die Gartenbank neben der Haustür sinken, obwohl sie moosig schimmerte, legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Der Frühling war nirgendwo auf der Welt so wie hier. Er schlich sich heran, fast verlegen, trat von einem Fuß auf den anderen, als ob er nicht aufdringlich sein wollte, ließ sich unendlich viel Zeit, überraschte mit zartem Flaum und jungfräulichen Farben und Düften, preschte vor, zuckte zurück und spielte das Spiel von Verlockung und Zurückweisung, bis sich der aufdringliche Sommer mit seinen fetten Farben durchgesetzt hatte.
Kein Vergleich mit dem gleichförmig freundlichen Wetter anderswo. Langweilwetter für Rentner und Kleinkinder. Er hingegen war gestern wie elektrisiert gewesen, als sich der Sturm ankündigte. Alles in ihm hatte nach Luft und Raum geschrien, die Lunge, die Haut, das Zwerchfell, die Augen. Er war so unruhig gewesen wie die Katzen, hatte aufgeräumt, staubgesaugt, feucht gewischt, ja sogar die Fenster geputzt, weil er nicht stillsitzen konnte. Die Fenster hätte er sich sparen können. Der Sturm hatte den Regen über die Straße gepeitscht, hatte ihn Erde und Stallmist vom Asphalt lecken lassen, dann die braune Suppe wieder hochgewirbelt und gegen die Fenster geklatscht. Streifenfrei.
Ich trinke auf dich
Hier ist erst morgens
War ein heißer Tag
Hier ist erst Frühling
Vermisse dich
I.d.a.
»Und? Alles in Ordnung?«
Bremer sah von seinem Mobiltelefon auf. Marianne stand nebenan im Fenster und räumte die Bettvorleger weg.
»Alles bestens.«
»Hast du Sehnsucht?« Marianne sah hinunter auf seine Hände, die das kleine Gerät umklammerten.
Er hob die Schultern. Ja und nein. Anne war in Los Angeles, und er war hier. Das sagte alles.
»Und? Den Sturm gut überlebt?«
»Keine besonderen Vorkommnisse.« Dreckige Fenster waren nicht der Rede wert, das waren sie bei ihm meistens. »Und wie steht’s bei euch?«
»Zwei Weidezäune, der alte Kirschbaum und ein paar Dachziegel.« Marianne legte die Arme auf den Fenstersims, das tat sie immer, wenn ihr nach einem Plausch war, und das Sturmtief Kyra und die Folgen waren Stoff genug. »Zwei Tote in Bayern, haben sie eben in den Nachrichten gesagt. Beim Spazierengehen vom Baum erschlagen.« Sie fuhr sich durch die blonden Locken und machte ein Gesicht, als ob sie »Geschieht ihnen recht, den Bayern« sagen wollte. Wer ging schon bei Sturm spazieren?
Paul grinste hoch zu ihr. Wenn er ihr erzählte, daß er gestern nacht aufgestanden war, weil er sich seit Stunden schlaflos im Bett wälzte, daß er sich angezogen hatte und hinausgelaufen war in den Sturm, würde sie auch ihn für verrückt erklären. Er war den Friedhofsweg hochgegangen, es hatte ihm bei jeder Windbö den Atem verschlagen, er hatte auf das Orgeln des Windes in den Stromleitungen gehorcht, auf das Ächzen der Weide am Friedhofsrand, auf das Rauschen des Sturms in den Pappeln am Bach. Noch nicht einmal Nemax war ihm gefolgt, der es normalerweise liebte, abends noch einen Rundgang zu machen. Die Vielstimmigkeit des Sturms hatte Bremer euphorisch singen und rufen lassen. Verrückt. Würde Marianne sagen.
»Luca ist verschwunden«, sagte sie beiläufig und tätschelte ein geblümtes Kopfkissen.
Luca. Das Sorgenkind von Klein-Roda. Und das sagte sie erst jetzt. »Seit wann? Mitten im Sturm?«
»Wird schon nichts passiert sein.« Marianne schüttelte das Kopfkissen aus und legte es beiseite. »Der hat sich irgendwo verkrochen. Unkraut vergeht nicht.«
»Du hast vielleicht Nerven!«
»Wer einmal lügt …« Sie wiegte den Kopf.
Dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Bremer kannte diesen und ähnliche Sprüche, nicht nur von Marianne. Sie hielt, wie die meisten im Dorf, Lucas Mutter für eine Fehlbesetzung und Luca selbst … Na ja. Der Knabe war nicht das erste Mal verschwunden.
»Seit wann ist er weg?«
»Seit Donnerstag.« Marianne nahm die hellblaue Bettdecke vom Fenstersims. »Nicole hat drei Tage gewartet, bevor sie die Polizei angerufen hat.«
Drei Tage Warten. Wie hält man das aus? Andererseits – Bremer erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als das ganze Dorf auf der Suche
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