Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
nach Luca war und man schon das Schlimmste befürchtete. Der zwölfjährige Knabe war schön wie aus dem Bilderbuch, mit blondem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und großen blauen Augen – der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, was so einem Kind geschehen konnte. Aber spätestens seit dem dritten Alarm waren alle abgestumpft, auch die Polizei. Man hatte sich daran gewöhnt, daß er verschwand und wieder auftauchte, meistens schon einen Tag später. Aber drei, nein: vier Tage?
»So lange war er noch nie weg.« Selbst Marianne schien beunruhigt zu sein. Und das wollte etwas heißen.
Luca war ein seltsamer Junge. Die Eltern hatten sich schon vor Jahren getrennt, die Mutter lebte seit einiger Zeit mit einem Freund, die Klatschbasen berichteten von lautem Streit, aber Genaues wußte man nicht. Der Junge selbst sagte nichts, er hatte bloß den unstillbaren Drang zu verschwinden.
Einmal kreuzte er bei Bremer auf, setzte sich auf die Gartenbank und sah ihm beim Rosenschneiden zu. Erst nach zwei Stunden sagte er etwas. Er wollte wissen, wie man die Farbe der »Rose de Resht« nennt, einer stark duftenden Damaszenerrose mit dicht gefüllten Blütenrosetten.
Purpur.
Vor dem weißblauen Himmel über ihm zogen zwei Krähen ihre Runden und krähten. Bremer sah Lucas Gesicht vor sich, ernst und ein bißchen verträumt. Vielleicht hätte er sich mehr um den Jungen kümmern sollen?
»Dein Telefon«, sagte Marianne.
Endlich hörte Bremer es auch.
Der alte Wilhelm war dran, wie üblich heiser und kurzatmig. Er war noch immer Ortsvorsteher, auch wenn er jedes Jahr ein bißchen steifer und ein bißchen müder wurde, aber es fand sich niemand, der ihn hätte ersetzen können.
»Paul, kannst du schnell rüber in die Siedlung fahren? Ulla hat angerufen. Bei ihrer Nachbarin stimmt was nicht. Die Frau wohnt allein, du weißt schon, es ist das Haus im Auenweg mit den vielen Bäumen im Garten.«
»Hat Ulla mal nachgesehen?« Gute Nachbarn taten das.
»Nein.« Wilhelm klang verlegen. »Alte Geschichten. Ich erzähl’s dir, wenn du zurück bist.«
»Ich fahr gleich los«, sagte Bremer. Er war Wilhelms Hilfssheriff, seit jenem Sommer vor einigen Jahren, als Wilhelm ins Krankenhaus mußte und ausgerechnet ihn, den zugewanderten Städter, um seine Vertretung gebeten hatte. Seitdem gehörte er dazu. Na ja: fast. Auch in Klein-Roda galt der Spruch: Wir haben nichts gegen Fremde, aber sie sollten schon von hier sein.
»Und – Paul? Halt bitte auch sonst die Augen auf. Luca ist wieder verschwunden.«
»Schon seit vier Tagen, hat Marianne gesagt.«
»Viel zu lange. Das macht mir Sorgen.«
Mir auch, dachte Bremer, lief nach oben und zog die Fahrradhose an, dazu ein warmes Hemd und eine winddichte Jacke, lief wieder hinunter und holte das Rad aus dem Schuppen. Alles, was Kinder betraf, weckte Urinstinkte, und Bremer, der es noch nicht einmal zum Onkel gebracht hatte, reagierte wie alle anderen auch. Man hatte hier in der Vergangenheit seine Erfahrungen gemacht mit verschwundenen Kindern. Der kleine Martin war tot gewesen, als ein Suchtrupp ihn entdeckte. Wenigstens Tamara lebte noch, als man sie fand. Das alles grub sich ein ins Gedächtnis und tat immer wieder aufs neue weh.
Gute Nacht
Ich schlafe schon
Luca ist weg
Nicht schon wieder
Ich mach mir Sorgen
Unkraut vergeht nicht
5
»Bringst du mir ein Autogramm mit?«
Nein, Caro. Und nun iß bitte dein Knäcke.
»Wie süß! Ein Autogramm!«
Flo! Hör auf, deine Schwester zu quälen.
»Vielleicht auch noch von der Lohberg, der alten Schachtel?«
Ist schon über 30, also kurz vor der Rente. Oh, Jugend ist grausam.
»Du bist gemein.«
Na ja – nicht, wenn Jugend Caro heißt und erst dreizehn ist.
»Und Papa sagt …«
Papa sagt gar nichts. Der hält sich raus. Vergiß das Pausenobst nicht, Flo.
»Aber ich möchte gern mit.«
Nein, Caro, kommt nicht in die Tüte. Und jetzt beeil dich.
»Kinder haben da nichts zu suchen. Papa hat doch gesagt …«
Daß eine Fernsehproduktion harte Arbeit ist und daß man sich als fachlicher Berater von der Polizei am Filmset möglichst unsichtbar macht. Ab in die Schule.
»Ich bin kein Kind! Kann ich nicht wenigstens nach der Schule …?«
Ich sagte doch: Nein.
»Hast du dich wegen Hannah Lohberg so feingemacht?«
Fein? Ich? Jetzt werd mal nicht frech, Flo. Und nun ab mit euch, Kinderchen.
Kuß rechts, Kuß links, Tschüs, Papa. Tschüs, ihr Süßen. Du hast das Obst vergessen, Flo. Und ich denk noch mal über das Autogramm nach,
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