Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
eine kurze Affäre gewesen. Die Mädchen waren spät dran, und das ersparte ihm jede Erklärung. Irgendwann würde er es ihnen sagen müssen. Aber nicht jetzt.
DeLange steckte Summer of Love und seinen Notizblock in die Tasche. In Krankenhäusern mußte man grundsätzlich warten, da half Lektüre, die ablenkte. Dann schloß er die Wohnungstür hinter sich, mit einem Gefühl, das er zuerst nicht verstehen wollte. Doch dann begriff er. Es war das Gefühl, daß die Jugend vorbei war. Die Jugend seiner Töchter.
Er ließ das Auto an und fuhr los. Erst durch die Hügelstraße. Dann auf die Ginnheimer Landstraße, wo er sich fast verfahren hätte. Nicht nachdenken. Nicht zu schnell fahren. Keine Panik. Kurz vor dem Krankenhaus nahm ihm eine schwankende Radfahrerin die Vorfahrt. Unter anderen Umständen hätte er ihr ein aufmunterndes »Heute schon an Selbstmord gedacht?« zugebrüllt, aber noch nicht einmal dafür reichte es. Das Leben war nicht nach seinem Geschmack. Um es vorsichtig auszudrücken.
Der Parkplatz hinter dem Krankenhaus war fast leer, die meisten Besucher kamen nach Feierabend. Er parkte das Auto nahe dem Eingang. Es war noch kälter geworden, der Frühling war vorerst vorbei, auch wenn sich eine Amsel im Gebüsch noch immer wie frühlingstrunken aufführte.
Eine Frau im Rollstuhl kam ihm entgegen, sie rauchte eine Zigarette und lächelte, als ob sie glücklich wäre, aber der Mann, der ihren Rollstuhl schob, sah aus, als ob er am liebsten weinen würde.
Der Geruch. Allein der Geruch machte ihn krank. DeLange lief die Treppe hoch, er wollte mit niemandem im Fahrstuhl stehen, der in einem ungewaschenen und abgewetzten hellblauen Frotteemantel steckte und nach Krankheit roch oder nach dem, was in den Klarsichtbeutel tropfte, den er in der Hand hielt.
Im Wartezimmer vor der Intensivstation saß glücklicherweise niemand. Aber Feli war bestimmt nicht der einzige Notfall. Eine Frau im weißen Arztkittel lief vorbei, nickte ihm geistesabwesend zu, öffnete die Tür zur Intensivstation und schloß sie hinter sich. Durch den Türspalt hatte er mehrere Bekittelte gesehen, die sich geschäftig über etwas beugten. Über den Leib Felis? Ihm war schlecht.
Ein Pfleger schaute in den Raum. »Kann ich etwas …« Die Augenbrauen fragend hochgezogen. »DeLange«, sagte Giorgio. »Meine Frau?«
»Felicitas DeLange?« Er bildete sich ein, so etwas wie Mitleid über das Gesicht des Mannes huschen zu sehen. War es so schlimm?
»Ich fürchte, Sie müssen ein paar Minuten warten.«
DeLange wußte, was das hieß. Mindestens eine Stunde. Nachdem er die orangefarbenen Plastikstühle und das Tischchen umkreist hatte, auf dem abgegriffene bunte Illustrierte lagen, setzte er sich endlich, ganz vorne auf die Kante eines der Plastikstühle, und zog Sophie Winters Buch aus der Jacketttasche. Er legte Spiralblock und Bleistift auf das Tischchen und nahm sich die Geschichte erneut vor, diesmal in Hinblick auf das, was in der Akte Alexandra Raabe stand. Erst die Personen. Angel, Charles und Sascha, alle drei um die zwanzig. Bis auf die Namen stimmte das überein.
Es wurde nicht ganz klar, was die drei zusammengebracht hatte. Charles war Student, jedenfalls hatte er sich für Philosophie eingeschrieben. Angel studierte Biologie, und was Sascha trieb, erfuhr man nicht. Jedenfalls hatten sie im Frankfurter Nordend eine Altbauwohnung angemietet. Und dort liebten sie sich, rauchten Shit und hörten Musik, wahrscheinlich in einer Lautstärke, die sie bei den Nachbarn unter Garantie nicht beliebt machte. Und eines Tages kam es zu dem, was die Autorin einen »Überfall« nannte: Man untersuchte die Wohnung auf Drogen. Die drei waren offenbar angezeigt worden, und die Polizei vermutete einen Dealerring, den sie ausheben wollte.
DeLange seufzte und blätterte weiter. Hatten die Kollegen damals wirklich auf jede Denunziation hin gleich die ganz große Nummer geschoben? Oder übertrieb das Buch so stark wie das Drehbuch? Die drei Romanhelden jedenfalls fühlten sich als Opfer einer intoleranten, autoritären Staatsmacht und beschlossen auszuwandern. Aufs Land. Als ob dort das Paradies sei.
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Ein Wasser?« DeLange sah auf. Der Pfleger. Seit wann war man in Krankenhäusern zuvorkommend? Er schüttelte den Kopf. Und bevor er fragen konnte, wie es Feli ging, war der Pfleger verschwunden.
Er beugte sich wieder über das Buch. Die drei mieteten eine heruntergekommene Fachwerkvilla mit Garten irgendwo im
Weitere Kostenlose Bücher