Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
als er Birdie packte, aber nicht darauf, daß sie ihm die Krallen in die Hand schlug. Er setzte sie vor die Tür, schickte Nemax hinterher, leckte sich das Blut von der Hand und ging auf die Knie. Behutsam streckte er die Hand nach der Meise aus. Wahrscheinlich war nichts mehr zu retten. An geknickten Flügeln und gebrochenen Beinchen starb man nicht sofort, eher schon an Todesangst. Aber das Tier ließ sich in die Hand nehmen, das Herz pochte, die dunklen Augen blinzelten unruhig. Bremer umschloß den zarten Körper mit beiden Händen und stellte sich ans geöffnete Fenster. Der Vogel regte sich, die kleinen, erstaunlich warmen Krallen kitzelten seine Handteller. Die Flügel bebten. Er öffnete langsam die Hände. Die Meise stellte sich auf die Beinchen, ordnete ihre Flügel, wartete noch eine Schrecksekunde und flog davon in die Morgendämmerung.
Erst nach Minuten ließ Bremer die Katzen wieder herein, die ungeduldig an der Tür kratzten. Birdie war beleidigt und ließ sich nicht streicheln. Nemax versuchte die Nase in die Ecke zu stecken, in der die Meise gesessen hatte.
Ihm war ganz schwach vor Rührung. Du Meisenretter, dachte er. Es klang wie Warmduscher. Aber es fühlte sich verdammt gut an.
Als das Teewasser kochte, hatten sich die beiden Katzen wieder beruhigt und sprangen durch die offene Haustür einem frühreifen Insekt hinterher. Bremer trank den Tee im Stehen. Er war unruhig, weil es seit zwei Tagen kein Lebenszeichen mehr von Anne gab, die Los Angeles wieder verlassen hatte und nun irgendwo in den Weiten Afrikas und wahrscheinlich da, wo es am gefährlichsten war, über Entwicklungsprojekte verhandelte. Sicher steckt sie im Funkloch, sagte er sich. Oder der Akku ihres Mobiltelefons ist leer. Sie wird sich schon melden.
Und dann klingelte das Telefon. Bremer zuckte zusammen.
Wer so früh anrief, hatte schlechte Nachrichten. Die schlechteste aller schlechten: Anne war etwas zugestoßen. Er lief die Treppe hoch in sein Arbeitszimmer.
Bitte nicht auflegen, dachte er, als er das Telefon nicht gleich fand. Aber der Anrufer gab nicht auf, nicht wie andere Idioten, die einen erst wach klingeln und, kaum hatte man sich hochgerappelt, auflegen, weil sie das schlechte Gewissen übermannt hat. Er fand das Telefon unter dem Katalog seines Weinhändlers.
»Paul?« Er hatte mit einer sonoren Männerstimme gerechnet, die ihm auf Englisch mitteilte, in welches Krankenhaus man Anne gebracht hatte. Oder mit Anne selbst, die ihm irgendeine Gruselstory erzählte, in der Malaria, Schlangengift und/oder die Lösegeldforderung einer Gruppe exotischer Freiheitskämpfer eine Rolle spielten.
»Tut mir leid, daß ich dich so früh störe.« Die brüchige Altmännerstimme gehörte Wilhelm, für den 7 Uhr morgens wahrscheinlich schon spät war.
Bremer war so erleichtert, daß er »Macht nichts« stammelte.
»Moritz hat Sophie Winters Auto gefunden. Er war heute früh unterwegs nach Frankfurt und hat mich angerufen.«
»Unfall?«
»Ein platter Reifen. Das Auto steht in der Kurve vor dem Wäldchen, du weißt, die Abkürzung zur Autobahn. Sie hat noch ein Warndreieck aufgestellt und ist dann offenbar zu Fuß nach Hause gegangen.« Wilhelm hustete. Er hustete kein bißchen weniger, obwohl er nicht mehr rauchte, seit sie ihm vor Jahren einen Lungenflügel entfernt hatten. Das Geräusch gehörte zu Klein-Roda wie das Geheul der Hunde beim Glockenläuten.
»Und was soll ich tun?«
»Das Auto ist ein Verkehrshindernis. Ich habe sie eben angerufen und sie nicht erreicht. Könntest du vielleicht …?«
»Die Frau ist Schriftstellerin, Wilhelm.« Bremer fühlte einen Gähnkrampf in sich aufsteigen. »Da geht man spät ins Bett und wacht spät auf.«
»Aber das Telefon ist gestört. Der Ruf ging gar nicht durch. Und dann …« Ein weiterer Hustenanfall. »Ihre Nachbarin hat mich gestern abend angerufen. Ich hab das nicht weiter ernst genommen, aber jetzt …«
»Ulla Abel?«
»Genau. Sie sagt, sie hätte eine verdächtige Person gesehen. In Sophie Winters Garten.«
»Ich schau nach.« Bremer unterbrach das Gespräch, ohne sich groß zu verabschieden, machte sich im Bad halbwegs öffentlichkeitstauglich, suchte viel zu lange nach dem Autoschlüssel und fuhr los. Es war zwanzig nach sieben, kalt und wolkenlos. Am Horizont kündigte sich ein strahlender Sonnenaufgang an.
Im Auenweg standen die Autos noch in den Garagen oder schon vor den Gartentoren, in den Küchen brannte Licht, auch bei Ulla Abel. Nur Sophie Winters Haus war
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