Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
dunkel. Er klingelte, aber die Klingel schien nicht zu funktionieren. Er klopfte, erst dezent, dann unhöflich laut. Sie hatte offensichtlich einen gesunden Schlaf.
Er wartete einen Moment, dann ging er zurück zum Auto, rief den ADAC an und fuhr zum Wäldchen. Das Warndreieck hätte er fast übersehen, der Wind oder ein Auto hatten es in den Straßengraben geweht. Sophie Winters roter Mercedes stand ein paar Meter weiter hinter der Kurve. Sie hatte ihn in der Tat ziemlich ungünstig geparkt, aber offenbar war niemand hineingefahren, was an ein Wunder grenzte, denn die Strecke war als Promilleweg bekannt. Bremer schaltete die Warnblinkanlage an, legte den Rückwärtsgang ein und parkte sein Auto so, daß man es schon von weitem sehen konnte. Dann stieg er aus und lief hinüber zu Sophie Winters Wagen.
Das Auto wies keine Dellen oder Lackschäden auf, sie hatte es direkt vor einem Baum zum Stehen gebracht. Bremer ging um das Auto herum. Der rechte Vorderreifen hatte sich beim Bremsen von der Felge gelöst. Er kniete sich hin und begutachtete den Schaden. Der Reifen war hinüber, das kam vor, manchmal war es ein Nagel, manchmal ein spitzer Stein, der sich durch die Reifendecke gebohrt hatte. Nichts davon zu sehen. Bremer zögerte. Dann schraubte er die Kappe vom Ventil. Er berührte mit dem Finger den kleinen Stift in dessen Mitte. Der Ventileinsatz bewegte sich. Er war herausgedreht, höchstens mit zwei bis drei Umdrehungen, sonst wäre der Reifen sofort platt gewesen.
Ein Zufall? Kaum zu glauben. Ein Versehen? Vielleicht. Wahrscheinlich nicht.
Als der Mann vom ADAC endlich mit dem Abschleppwagen kam, hatte Bremer wohl viermal sein Handy aus der Hosentasche genommen, um die Polizei anzurufen. Viermal hatte er sich dagegen entschieden. Denn so etwas tut man nicht auf dem Land. Man klärt seine Angelegenheiten von Angesicht zu Angesicht. Die Frage war nur: Mit wem?
Das Gespräch mit Gregor saß ihm in den Knochen. Es sah ganz danach aus, als ob sich nicht viel geändert hätte seit damals. Auch Sophie Winter war fremd und störte: Das auffällige Auto. Die vielen Bäume in ihrem unordentlichen Garten. Die Tatsache, daß sie in einem Spukhaus wohnte. Sie hatte das Dorf gegen sich. Aber ein aufgedrehtes Radventil wäre schon ein bißchen mehr als bloßes Ressentiment. Es würde bedeuten, daß die Stimmung bereits in Aggression umgeschlagen war.
Und der nächtliche Besucher in ihrem Garten? Schlief sie wirklich so fest? Oder war ihr etwas passiert?
Paßt schon, flüsterte es in ihm. Du kennst das doch, wie das hierzulande funktioniert. Immer sind die Fremden schuld, wenn etwas schiefgeht. Rumänische Räuberbanden, russische Kindesentführer – Hauptsache, es ist keiner von uns. Siehe Walter Manz. Der Mann, der sich womöglich an Luca vergangen hat, kommt aus Thüringen, was geht uns so einer an? So schützt sich die dörfliche Gemeinschaft vor der Implosion. Und das Elend war – man konnte es sogar verstehen. Man muß ja weiterhin zusammenleben. Besser, das Böse kommt von außerhalb. Doch manchmal wird dem dörflichen Zusammenhalt jemand geopfert. Und das ist nicht mehr verständlich. Das ist kriminell.
Sophie Winter als Sündenbock, als Opferlamm? Wenn das der Fall wäre – wenn ihr etwas passiert wäre – dann …
Dann, dachte Bremer, ist es verloren, dein Auenland. Dann gehst du fort. Zurück in die Stadt.
Der ADAC-Mann lud den roten Mercedes unter den fachmännischen Kommentaren eines Autoliebhabers auf und notierte sich Bremers Telefonnummer. Dann fuhr er davon.
Auch Bremer machte sich auf den Rückweg zu Sophie Winters Haus. Wieder klopfte er, wartete. Aber es rührte sich nichts.
»Sie ist da, ich habe sie vorhin gesehen, wie sie die Katze rausließ«, rief es vom Gartenzaun her. »Wahrscheinlich hat sie sich wieder hingelegt. Das macht sie öfter.« Ulla Abel. Er war mit ein paar Schritten bei ihr.
»Wie wirkte sie? Alles in Ordnung? Und was ist mit der Person, die Sie in ihrem Garten gesehen haben?«
Ulla zögerte. Dann hob sie die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß nicht. Es war ja dunkel. Aber irgend etwas …«
Irgend etwas stimmt hier nicht. Das dachte Bremer auch.
»Es hat geblitzt. Wahrscheinlich eine Taschenlampe.«
Bremer zögerte. Dann beruhigte er sich damit, daß Sophie Winter noch lebte und ein nächtlicher Besucher nicht unbedingt ein Verbrecher sein mußte. Vielleicht war da einer nur diskret gewesen? In diesem Fall ginge ihn das nichts an.
Er nahm den Weg
Weitere Kostenlose Bücher