Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
eingefädelt. Für mich klingt das nach einem überstürzten Aufbruch unter dem Deckmantel eines akademischen Austauschprogramms.«
»Ja«, sagte Paul, der nun auch seine letzten Vorbehalte über Bord warf. »So viele Zufälle auf ein Mal kann es nicht geben. Wann nehmt ihr sie fest?«
Katinka sah auf die Uhr und sagte mit kaum unterdrückter Genugtuung: »In diesen Minuten dürfte Frau Dr. Karczenko bereits das kühle Metall der Handschellen spüren.« Sie schob ihren Stuhl zurück, erhob sich und zog den Saum ihres Rockes gerade. »So. Und nun ist es Zeit für einen vorgezogenen Feierabend. Gehen wir einen Cappuccino trinken?«
Zufrieden mit sich und der durch Katinka bestätigten Mordtheorie passierte Paul an Katinkas Seite das riesige, schmiedeeiserne Portal. Den Blick zielorientiert auf die U-Bahnstation gerichtet, zuckte er jäh zusammen: Das Christkind kauerte mit abgelegten Flügeln auf der Motorhaube eines am Straßenrand geparkten Kombis. Katinka reagierte ebenfalls überrascht und eilte zu dem Mädchen, das das Gesicht in den Händen vergraben hatte. »Hannah! Was machst du hier in deinem Kostüm? Hast du einen Auftritt geschwänzt?«
Hannah blickte auf und nickte traurig. »Ja, Mama.« Die Goldlöckchen hingen ihr schneedurchnässt in die Stirn, ihre Wangen waren gerötet, die Schmolllippen fahl von der Kälte.
Paul, der langsam nachgekommen war, konnte es kaum fassen: »Hannah ist – deine Tochter?«
Katinka Blohm nickte flüchtig. Hannah, die Paul erst jetzt registrierte, schaute ihn einige Augenblicke voller Erstaunen und dann mit aufblitzender Wut im Blick an. Gleich darauf fing sie sich aber und ignorierte ihn. Katinka hakte ihre Tochter unter und zog sie mit sich in Richtung U-Bahn. »Was denkst du dir dabei? Wenn du dich für einen solchen Job bewirbst, musst du ihn ernsthaft ausüben«, schimpfte sie. »Wen hast du versetzt? Einen Kindergarten? Oder den Bürgermeister bei einem wichtigen Empfang?«
Hannah schüttelte die Haare, von denen in dicken Tropfen geschmolzener Schnee perlte. »Ein Altenheim, das Heigei.«
»Umso schlimmer!«, Katinka verdrehte die Augen. Gemeinsam mit dem noch immer verblüfften Paul stiegen sie in die U-Bahn zur Innenstadt. »Wir werden jetzt zusammen zum Heilig-Geist-Spital fahren, und du wirst deinen Auftritt hinter dich bringen. Ich möchte nicht in der Zeitung lesen, dass das Christkind hundert Neunzigjährige versetzt hat.«
»Kati«, sagte Hannah mit wieder gewonnenem Mut, »ich lasse Aktfotos von mir machen und veröffentlichen.«
Paul war gespannt auf die Reaktion, denn die Raison der Staatsanwältin war nun endgültig dahin. Ihre Augen sprühten Funken. »Warum machst du diesen abgedroschenen Mist mit? Gibt es nicht genug Mädchen, die sich für die Öffentlichkeit ausziehen?«
»Es bringt eine Menge Geld«, wandte Hannah ein.
»Geld kannst du von deinem Stiefvater haben. Oder von mir. Das ist unser geringstes Problem. Es geht dir doch in Wahrheit nur darum, uns eins auszuwischen.« Paul machte sich allmählich ernsthafte Sorgen, denn Kantinka Blohm kochte vor Wut, als sie sagte: »Wenn ich denjenigen erwische, der diese Fotos von dir macht, kann er was erleben!«
Paul versuchte, sich in seinem Sitz klein zu machen. Glücklicherweise verhielt sich Hannah so fair, ihn jetzt nicht direkt anzusehen.
Am Hauptbahnhof verließen sie die U-Bahn und bahnten sich ihren Weg durch die im vorweihnachtlichen Einkaufsgetümmel verstopfte Innenstadt.
»Du bist erwachsen, Hannah, und musst selbst wissen, was du tust«, sagte Katinka schließlich eine Spur milder.
Hannah nickte. Sie lächelte gequält, als sie ein kleiner Junge um ein Autogramm bat. Im Nu waren sie von anderen Kindern umringt und konnten ihren Weg nur mit Mühe fortsetzen.
»Trotzdem verbiete ich dir, die Fotos zu machen«, zischte Katinka.
»Wir haben schon damit angefangen«, gab Hannah giftig zurück und warf Paul nun doch einen scheelen Blick zu.
»Wer sind ›wir‹?«, fragte Katinka und verstellte ihrer Tochter den Weg.
»Ich muss ins Altenheim, Mama. Halt mich bitte nicht auf«, sagte Hannah trotzig.
»Und ob ich dich aufhalte!«, Katinka umfasste mit beiden Händen Hannahs Schultern. »Wer ist dieser Kerl, der die Naivität einer Minderjährigen so schamlos ausnutzt?«
»Ich bin neunzehn«, verbesserte sie Hannah, »ich bin nicht mehr dein Baby.«
»Ich will es trotzdem wissen!«, beharrte Katinka. Inzwischen hatte sich wieder eine Menschentraube um sie herum versammelt und
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