Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
der an dem verborgenen Haken hängen bleibt. Ich bin raus aus der Sache.«
»Das können Sie nicht machen!« Paul war entrüstet.
»Doch, das kann ich«, sagte Blohfeld sehr ruhig und diszipliniert.
30
Der Winter hielt die Stadt fest in seinem Griff. An den steil abfallenden Hängen des Burgbergs lieferten sich Kinder erbitterte Wettstreits um die Bestzeit im Schlittenrennen. Unten warteten die Mütter und Väter mit Kinderpunsch und Laugenbrezeln auf die erschöpften Kleinen. In Sichtweite dieses lautstarken Treibens hoffte in seiner wohlig warmen Atelierwohnung Paul Flemming auf die endgültige Erleuchtung.
Die letzten beiden Tage waren ereignislos verstrichen und hatten ihn mehr und mehr zermürbt. Durch Zeitungsartikel hatte er erfahren, dass die Karczenko wieder aus der Haft entlassen worden war.
Auch die letzte plausible Theorie hatte sich – wie von Blohfeld erahnt – als Flop erwiesen. Wie er schwarz auf weiß der Presse entnehmen konnte, stimmten die von der Karczenko offenbar freiwillig abgegebenen Haar- und Gewebeproben nicht mit den an den Tatorten sichergestellten Vergleichsproben überein. Zudem hatte sich ihre Amerikatour keineswegs als eine übers Knie gebrochene Aktion erwiesen, sondern als eine ganz offizielle Rundreise auf Einladung der deutsch-amerikanischen Gesellschaft für Kunstgeschichte. Auch Katinka hatte mit ihren Anschuldigungen also danebengelegen.
Zu allem Überfluss hatte sich sogar der falsche Doktortitel der Karczenko als tote Spur erwiesen. Der in Tschechien erworbene Titel war zwar in Deutschland nicht anerkannt, doch die Karczenko hatte ihre offizielle Dissertation längst nachgeholt.
Paul spürte die Unruhe erneut in sich aufkommen. Er musste etwas unternehmen, um dieses mörderische Rätsel, das sein eigenes Leben beträchtlich tangierte, ja sogar bedrohte, endgültig zu lösen.
Solange er auch darüber nachdachte, so blieb doch immer eine Konstante: Dürer. Alle Fäden liefen bei Dürer zusammen. Aber was hieß das schon, fragte er sich voller Ungeduld, als er sich auf den Weg machte. Er kniff die Augen zusammen, um sich vor dem scharfen Ostwind zu schützen, der ihm nahezu horizontal Schneeflocken ins Gesicht blies.
Dürer, Dürer, Dürer.
Paul war seinem Instinkt gefolgt, als er Lena telefonisch um ein Treffen im Dürerhaus gebeten hatte. Er erhoffte sich die dringend benötigte Inspiration von diesem Ort. Nun stand er vor dem noch immer teilweise eingerüsteten Gebäude, das stolz aufragende Dach mit Schnee bedeckt, das Fachwerk sorgsam herausgeputzt, als hätte der frühere Bewohner die Restaurierung auf seine penible Art selbst überwacht. Das Dürerhaus war um 1420, in der Spätgotik, gebaut worden, Dürer selbst hatte hier zwischen 1509 und 1528 gelebt. Paul wusste auch, dass er höchstpersönlich Hand angelegt hatte, um das Gebäude seinen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Da wurden unter seiner Regie Mauern versetzt, und seiner Mutter hatte er angeblich nachträglich eine Küche einbauen lassen.
Paul trat ein. Lena erwartete ihn gleich im Foyer an der Theke, an der die Kopfhörer für Touristenrundgänge ausgegeben wurden.
»Müssen diese Dinger wirklich sein?«, fragte Paul skeptisch und nahm sich einen Kopfhörer vom Ständer. Asiatischer Singsang drang in sein Ohr.
»Ja«, sagte Lena lächelnd.
»Tut’s nicht auch der gute alte Fremdenführer?«, provozierte Paul, zwinkerte ihr dabei aber zu, wohl wissend, dass er mit solchen Fragen den Ehrgeiz der Architektin anstachelte.
»Mein lieber unwissender Herr Fotograf. Das Dürerhaus besuchen bis zu hunderttausend Touristen im Jahr. Ein beträchtlicher Teil davon sind Ausländer. Über die Kopfhörer kannst du die Führung in fünf Sprachen anbieten – welcher Fremdenführer beherrscht die schon? Und wem’s zu unpersönlich ist: Wir haben ja noch die Agnes.«
»Aber die Schauspielerin, die die Agnes mimt, wird wohl kaum Japanisch sprechen«, wandte Paul ein.
Lena lächelte nachsichtig. Sie winkte Paul hinter sich her. Während sie die Treppe nach oben nahm, sagte sie: »Die Schauspielerin? Es sind etliche. Weißt du«, sie konnte ein Kichern kaum unterdrücken, »wenn ich es drauf angelegt hätte, wäre ich mit der Dürerhaus-Sanierung bundesweit in die Schlagzeilen gekommen.« Sie kamen an einem Aufseher im zweiten Stockwerk vorbei, der Paul argwöhnisch musterte, dann aber mit einem Nicken grüßte. »Nach den ersten statischen Untersuchungen hätte ich das Haus schließen müssen.
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