Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
erreicht, als sich ihm eine Frau in den Weg stellte. Sie trug den weißen Kittel der Metzger und eine transparente Haarhaube, die mit einem eng anliegenden Gummizug zusammengehalten wurde.
»Hui«, stieß Paul aus, »haben Sie mich erschreckt.«
»Entschuldigung«, sagte die Frau, die Paul auf Mitte fünfzig schätzte.
Sie musterte ihn forschend. »Sie sind von der Presse, oder?«, fragte sie zögernd.
Paul wog sekundenschnell die Wirkung der verschiedenen möglichen Antworten ab und entschied sich dann zu einem Nicken.
»Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet. Sie sind wegen der Mauscheleien in der Fertigung hier, oder?«
»Mauscheleien?« Paul versuchte, das Gehörte mit den ihm bekannten Informationen unter einen Hut zu bringen.
»Der Zugang zu unseren Werkshallen wird mehr und mehr eingeschränkt und überwacht. Die Fabrik ist mittlerweile zur Festung geworden. Offiziell werden die strengeren EU-Richtlinien in der Lebensmittelhygiene vorgeschoben. Aber niemand kann sich erklären, wie immer weniger Arbeiter immer mehr Ware produzieren können. Nur noch ein paar von uns dürfen hinein – da muss man doch misstrauisch werden.«
Paul taxierte die Frau forschend. War sie vertrauenswürdig?
»Auf was wollen Sie hinaus?«, fragte er dann ernst.
»Weshalb sind Sie denn hier?«
Paul sah seine Felle davonschwimmen. »Haben Sie Beweise für Ihre Vermutungen?«
Aber seine Gesprächspartnerin schien den Mut zu verlieren.
»Nein, nein. Ich dachte bloß … ich wollte nur helfen.«
»Danke«, sagte Paul und setzte seinen Weg zur Pforte fort.
»Augenblick.« Die Frau holte ihn ein. »Sprechen Sie mit Julius Imhof.«
»Wer soll das sein?«, fragte Paul.
Die Frau stemmte ihre dünnen Arme in die Hüften. »Julius war mein Arbeitskollege. Er ist entlassen worden. Von einem Tag auf den anderen, weil er zu neugierig geworden war.«
13
Es war schon nach zwölf Uhr, als Paul endlich den kleinen Bäckerladen in der Nähe des Weinmarktes betrat. Er musste eine Weile anstehen, weil eine alte Dame, die sich auf eine mattsilberne Gehhilfe stützte, zeitraubend lange mit sich rang, ob sie die Mohnschnecke, einen Nusstaler oder vielleicht doch lieber ein Butterhörnchen nehmen sollte. Paul kürzte das Warten ab, indem er sich die Tageszeitung nahm und den Lokalteil aufschlug. Natürlich war der Wiesinger-Mord noch immer das Thema Nr. 1. Beim Blick auf die Autorenzeile las Paul allerdings anstelle von Blohfelds Namen einen ihm unbekannten anderen. Verwundert legte er die Zeitung zurück auf den Tresen und ließ sich – endlich an der Reihe – die zwei letzten Brötchen einpacken.
Warum hatte Blohfeld es hingenommen, dass sich ein anderer in seiner Domäne als Polizeireporter tummelte?, rätselte Paul auf dem Rückweg.
Der Sommer prägte das Bild des Weinmarktes: Die Bäume vor den Parkbuchten standen in kräftigem Grün, die Früchte des Obststandes schräg neben dem urigen Antiquitätenladen wirkten im warmen Gold des Lichts besonders appetitlich und unter den eleganten Sonnenschirmen vor dem Café Sebald nippten Geschäftsleute mit hellen Anzügen und dunklen Brillen an ihrem Cappuccino.
Paul schmunzelte, weil ihm gefiel, was er sah. So mochte er den Weinmarkt, sein persönliches Revier. Die kleine Stadt in der großen Stadt, wie er gern sagte.
Er wollte zu seinem Haus abbiegen, als sein Blick auf einen Jungen auf der anderen Straßenseite fiel. Der kleine Kerl, vielleicht drei oder vier Jahre alt, begleitete seine Mutter, wobei er eine unkonventionelle Art der Fortbewegung gewählt hatte: Mit beiden Händen hielt er die Träger einer Plastiktüte fest, während seine Füße in der Tüte steckten. Wie beim Sackhüpfen kam der Junge nur langsam voran und ging bei jedem dritten Hüpfversuch gefährlich tief in die Knie, behielt aber letztlich sein Gleichgewicht. Paul schaute sich das Treiben belustigt an und winkte dem Kleinen zum Abschied augenzwinkernd zu.
Zu Hause hatte Paul es sehr eilig, sein Telefon zu finden, doch es steckte nicht in der Ladestation. Auch Schreibtisch und Sofa erwiesen sich als Fehlanzeige. Auf der Ablage neben der Spüle wurde Paul endlich fündig und tippte die Nummer von Katinkas Büro ein.
»Guten Morgen«, flötete er gut gelaunt in den Hörer. »Schon so früh am Verfassen von beinharten Anklageschriften?«
»Früh?«, kam es trocken zurück. »Haben Sie heute schon mal auf die Uhr geschaut, Herr Fotograf? Andere machen um diese Zeit Mittagspause.«
Paul gönnte sich ein
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