Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Einschätzung Probleme damit sich dem Understatement der Wiesingers unterzuordnen. Paul schätzte sie als ebenso heißblütig wie eifersüchtig ein. Es musste einen guten Grund dafür geben, dass sie ihrem Mann mehr Freiheiten ließ, als man es von einer Ehefrau mit ihrem Naturell erwarten würde.
Paul malte sich aus, wie ihr Schicksal verlaufen sein könnte: Doro war weltoffen, verliebt und wohl auch naiv gewesen, als sie in den Clan einheiratete. Andi Wiesinger trug sie auf Händen, doch der Alltag ernüchterte die beiden schnell. Von Anfang an sah die Nürnberger Gesellschaft in Doro nur eine exotische Beigabe zum erfolgsverwöhnten Unternehmer Wiesinger junior. Die beiden lebten sich auseinander, arrangierten sich dann aber mit ihrer Ehe.
Nun stellte Paul die Prinzessin in gebührendem Abstand zum Mann mit den blauen Hosen auf den Tisch zurück.
Jeder geht inzwischen seinen eigenen Interessen nach. Eine Scheidung wäre zu teuer und würde außerdem dem Renommee der Firma schaden. Doro ist Meisterin im Verdrängen und tröstet sich mit extravaganten Kleidern, Schmuck und Reisen.
Wie waren die anderen Wiesingers einzuordnen? Nun gut, über den Senior und den Junior hatte Paul – nicht zuletzt dank des Gesprächs mit dem Chauffeur – einiges erfahren. Aber was war mit den Wiesingers, die für ihn nicht greifbar waren, weil sie nicht mehr in Nürnberg lebten? Die geschiedene Frau des Seniors zum Beispiel oder der zweite Sohn, Stephan, von dem er bis vor kurzem noch nie etwas gehört hatte? Wie stark waren die Familienbande ausgeprägt? Oder wichtiger noch: Inwieweit konnten diese beiden vom Tod des Seniors profitieren?
Wieder griff er nach der Mädchenfigur: War das vielleicht die Spur, auf die Antoinette und Blohfeld bei ihren Recherchen gestoßen waren und die sie in den Tod und Blohfeld in die Flucht getrieben hatte? Waren sie auf gierige Erben gestoßen, die den Senior eiskalt abserviert hatten? Paul straffte seine Schultern. Seine neueste Theorie ließ zum jetzigen Zeitpunkt zwar noch eine Menge Fragen offen, doch immerhin bot sie ein starkes Motiv.
Das erste Mal seit Beginn der seltsamen Vorkommnisse hatte er das Gefühl, so etwas wie einen roten Faden zu erkennen. Wieder und wieder musterte er die Playmobilfiguren und versuchte die Dinge in seinem Geist zu ordnen. Paul beschloss, den vermeintlichen Schummel in der Wurstfabrik und das obskure Spiel des Heimatbundes vorübergehend zu Nebenkriegsschauplätzen zu erklären und sich ganz auf die neue Fährte zu konzentrieren. Wenn er mit seiner Vermutung Recht hatte, drehte sich das eigentliche Geschehen ums liebe Geld – nämlich um die Aufteilung des Familienvermögens. Das wäre eines der ältesten Mordmotive der Welt. Und es würde sogar als Motiv für beide Morde ausreichen. Jetzt musste Paul nur noch herausfinden, wer der oder die Hauptbegünstigte war. Ein aufregendes Prickeln durchströmte seinen Körper. Er trank seinen Kaffee aus und winkte der Kellnerin.
24
Als Paul seinen Wagen erreichte, überlegte er, dass dieser an seinem jetzigen Standort eigentlich ganz gut geparkt war, und entschied sich zu Fuß zum Weinmarkt zu gehen. Er wählte den direkten Weg durch die Weißgerbergasse. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen, das fein herausgearbeitete Fachwerk an den Häuserfronten zu beiden Seiten der schmalen Straße und die allmählich abklingenden Temperaturen versetzten ihn in eine angenehm versöhnliche Stimmung.
Er reduzierte das Tempo und erfreute sich an der vertrauten Umgebung. Schon merkwürdig, dachte er, er lebte seit fast vierzig Jahren in ein und derselben Stadt und war immer wieder aufs Neue angetan. Er liebte dieses einzigartige Flair, das die Verbindung aus Alt und Neu ausmachte.
Je näher er dem Weinmarkt kam, desto mehr holte ihn allerdings der schnöde Alltag wieder ein. Ewig würde er sich weder vor der stickigen Luft noch vor dem unerledigten Abwasch in seiner Wohnung drücken können. Also riss sich Paul zusammen und ging nach Hause. Er grübelte weiter über die Familiengeschichte der Wiesingers, als er die Stufen bis hinauf zu seiner Atelierwohnung nahm. Für seine Erbschleichertheorie fehlte ihm leider jedweder Beweis. Es würde schwer werden, Katinka auf diese rein spekulative neue Spur zu bringen. Gedankenverloren holte er sein Schlüsselbund heraus.
Dann stockte er.
Sein Schlüssel passte nicht ins Schloss. Zumindest nicht ganz.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte Paul. Er zog den Schlüssel heraus und
Weitere Kostenlose Bücher