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Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter

Titel: Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Beinßen
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Hans-Paul Wiesingers uneheliche Tochter?«
    Auch Paul war wie vom Blitz getroffen. Die Gedanken in seinem Kopf schlugen Kapriolen.
    »Das nenne ich eine wirkliche Offenbarung.« Fink deutete auf den Brief. »Soll ich weiter übersetzen?«
    »Ja«, sagte Paul.
     
    Um es kurz zu machen, es war keine große Wiedersehensfreude. Vielleicht habe ich zu viel erwartet von diesem Treffen. Ich weiß es nicht, und es kann mir nun auch egal sein. Ich glaube, dass er immer nur an sein Bratwurst-Imperium und an sein Geld gedacht hat, auch an diesem Abend. – Nein, ich glaube es nicht nur, sondern ich weiß es. Er sagte, dass er nach meinem Anruf schon gewisse Befürchtungen gehabt und sich mit seinem Notar in Verbindung gesetzt hatte. Er wollte wohl prüfen lassen, ob sein Testament hieb- und stichfest ist. Nun ja, das werden wir bald sehen, denn ich will bis zur Testamentseröffnung hier bleiben. Jedenfalls, der Abend ist nicht gut ausgegangen. Ganz und gar nicht gut. – Vater und ich hatten zumindest eines gemeinsam: unser Temperament.
    Ich habe etwas nach ihm geworfen, ihn verfehlt. Aber die Scheibe der Terrassentür ist in die Brüche gegangen. Das alles war wohl sehr laut. Wenig später hörten wir Schritte, und Vater sagte mir, ich sollte mich nur ja verstecken und meinen Mund halten. Instinktiv folgte ich seiner Anordnung und stellte mich hinter einen Vorhang.
    Dann passierte es. Es kam völlig unerwartet für mich – nie habe ich etwas ähnlich Schreckliches erlebt. Ich kann diese Sätze kaum zu Papier bringen, da meine Hände allein bei der Erinnerung an diese grausame Tat zu zittern anfangen. Tante, ich habe ihn sterben sehen: Mein Vater starb, kaum dass ich ihn das erste Mal in meinem Leben getroffen hatte. Ich kann dir nicht genau schildern, wie sich alles abspielte. Denn ich kenne nur Bruchstücke. Es kam tatsächlich jemand ins Zimmer. Mein Vater war aufgebracht und streitlustig. Es war nur eine Sache von Minuten, bis die Situation eskalierte. Es war furchtbar und grausam, aber ich kann trotzdem verstehen, warum mein Vater sterben musste. Das mag kaltherzig und gnadenlos für dich klingen, aber ich empfinde so, weil ich als heimliche Zeugin alles miterlebt habe: Ich habe zugehört, wie mein Vater einen anderen Menschen abkanzelte und zu einem Nichts degradierte. Und das sicher nicht zum ersten Mal, denn sonst wäre die Reaktion des anderen nicht so heftig ausgefallen.
    Es gab einen höllischen Streit, in dem Vater auf seine arrogante Art die Oberhand behielt. Dann hörte ich mit einem Mal einen dumpfen Schlag, woraufhin sich eine gespenstische Stille ausbreitete. Ich habe einige Minuten gewartet, in Todesangst. Langsam wagte ich mich aus meinem Versteck und sah Vater in einer großen Blutlache liegen.
    Ich wollte nur noch raus! Raus aus dieser schrecklichen Villa! Mir war übel, und beinahe hätte ich mich übergeben. Ich stolperte in Richtung Terrassentür und stieg über die zertrümmerte Scheibe im Türrahmen. Dabei schnitt ich mir die Hand an einer hervorstehenden Scherbe auf. Als ich vor Schmerz aufschrie und mich noch einmal umsah, wusste ich, dass ich beobachtet wurde.
    Du wirst dich jetzt fragen, warum ich nicht umgehend die Polizei angerufen habe. Aber vielleicht kannst du mich verstehen, wenn ich dir sage, dass ich mich vor den Konsequenzen gefürchtet habe. Der Tod des Bratwurstkönigs wirbelt hier viel Staub auf. Und bin ich nicht selbst verdächtig? Mein Deutsch ist zwar gut, aber reicht es aus, um mich gegenüber einem misstrauischen Kriminalpolizisten zu verteidigen? Um wenigstens bei den polizeilichen Ermittlungen auf dem neusten Stand zu bleiben, habe ich mir ein Praktikum bei der Zeitung verschafft: Mein Chef, den ich eingangs ja schon erwähnt habe, ist ein ruppiger Kerl. Aber er trägt das Herz am rechten Fleck und erzählt mir bereitwillig alles, was es über den Mord an meinem Vater Neues zu berichten gibt.
    Trotzdem möchte ich jetzt nur noch eines: nach Hause zu euch kommen, weil ich diese bedrohliche Angst allein nicht mehr aushalte! Onkel Louis wird dann sicher wissen, was zu tun ist.
    In ein paar Tagen werde ich dir dies alles noch einmal ausführlich erzählen. Bis dahin musst du Geduld haben. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich mich beeilen werde: Ich werde – wie gesagt – die Testamentseröffnung abwarten. Ich kann nicht anders. Denn ich bin noch immer nicht bereit dazu mir einzugestehen, dass Vater mich wirklich verleugnet hat. Ich war seine Tochter – seine einzige

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