Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Katinkas Augen.
Ihre Reaktion war heftig. Nachdem sie den Brief zuerst zögernd und mit vielen Fragezeichen im Blick in die Hand genommen hatte, las sie ihn mit zunehmendem Interesse. Ihr Atmen wurde mit jeder Zeile heftiger, und schließlich blickte sie Paul mit fassungslosem Erstaunen an.
Paul musste ihr haarklein berichten, wo und unter welchen Umständen er den Brief gefunden hatte und wer seinen Inhalt kannte. Blohfeld nannte er selbstverständlich nicht. Trotzdem erwähnte Katinka ihn als Erstes: »Falls dein Reporterfreund Kontakt zu dir aufnehmen sollte, schärfst du ihm ein, dass er sich stellen soll. Blohfeld hat sonst keine Chance. Wenn wir ihn fassen, dann sieht es nicht gut aus. Zumindest wegen Behinderung der Justiz werden wir ihn drankriegen.«
Paul stimmte ihr zu, denn was hatte er schon für eine andere Wahl? Dann wies er Katinka auf Antoinettes Handverletzung hin und regte an, einen Vergleich mit den am Tatort gefundenen Blutspuren vorzunehmen.
Katinka nahm diesen Vorschlag wenig euphorisch auf, und Paul merkte daran, dass er sich viel zu sehr in ihre Kompetenzen einmischte und damit ihr Ego kränkte. Er musste Katinka schleunigst eine Gelegenheit zur Rehabilitierung bieten.
Doch nicht nur Paul hatte Überraschungen parat, auch Katinka: In Sachen Heimatbund hatte sich nach dem Geständnis des Schönen Hans einiges getan. Ihre Kollegen von der Wirtschaftskriminalität hatten sich eingehend mit Jungkuntz’ Geschäftsgebaren befasst. »Seine Spezialität sind illegale Transaktionen am Finanzamt vorbei, geschickt getarnt unter dem Deckmantel der Heimatliebe. Zu seinen Kunden gehörten Wiesinger und andere Wirtschaftsgrößen.«
»Ich habe es mit Zahlen nie besonders gehabt«, gestand Paul ein. »Kannst du einem Laien wie mir bitte erklären, wie Jungkuntz und Wiesinger das gedeichselt haben?«
»Die ganze Sache war eigentlich ausgesprochen einfach – wie so viele brillante Ideen. Wiesinger hat dem Heimatbund im Laufe der Jahre immer wieder größere Summen zum Geschenk gemacht. Und zwar über einen ganz bestimmten Kanal: Dr. Jungkuntz’ gemeinnütziges Konto für Spendeneingänge. Das Geld war offiziell für Zwecke der fränkischen Heimatforschung bestimmt, was nach außen hin glaubwürdig und unverdächtig klang. Gleichzeitig aber diente es als Nebenbürgschaft für ein Darlehen bei einer ausländischen Bank. Auf diese Weise existierten Wiesingers Euros zweimal: und zwar sowohl in den Bürgschaftsunterlagen als auch – in verkleideter Gestalt – in Form der voll von der Steuer absetzbaren Spende.«
»Ich nehme an, Jungkuntz ließ sich das Jonglieren mit fremder Leute Geld gut bezahlen.«
»Davon gehe ich aus«, sagte Katinka. »Das ist wohl auch der Grund dafür gewesen, dass er so nervös auf unsere Ermittlungen reagiert und seinen Gorilla auf uns angesetzt hat.« Sie sah Paul nachdenklich an. »Ich hatte mir bereits eine wunderschöne neue Theorie zusammengebastelt, wie durch die Aufdeckung von Jungkuntz’ Geschäften auch der Wiesinger-Mord geklärt werden könnte.«
»Wohl die nahe liegende Schlussfolgerung, dass Jungkuntz mehr für sich abgezweigt hatte als vereinbart und daraufhin in einen tödlichen Streit mit Wiesinger geraten war?«, folgerte Paul, der sich ähnliche Gedanken ja schon selbst gemacht hatte.
Katinka nickte verhalten. »Ja, das klingt im ersten Augenblick verlockend plausibel. Aber so kann es nicht gewesen sein. Denn erstens schlachtet man nicht die Kuh, die man melkt. Und zweitens kann ich Antoinettes Brief nicht ignorieren. Denn wenn es stimmt, was sie schreibt, war der Mörder während ihres Besuches bei ihrem Vater ja bereits im Haus. Was aber hätten Jungkuntz oder Schaller zu dieser Zeit bei Wiesinger zu suchen gehabt? – Nein, nein, das ergibt keinen Sinn. Jedenfalls werde ich mich gewaltig anstrengen müssen, wenn ich ihm mehr als nur die Geldschieberei nachweisen will.«
»Freu dich doch erst mal über euren Ermittlungserfolg mit den Finanzschiebereien und denke dann später in Ruhe über den Rest nach«, versuchte Paul sie aufzumuntern. Gleichzeitig hoffte natürlich auch er auf einen baldigen Durchbruch bei den Mordverfahren – einen, der Blohfeld ein für alle Mal aus der Schusslinie und aus seiner Wohnung bringen würde.
37
Der nächste Tag war ein einziges Sich-aus-dem-Weg-Gehen. Für Paul war das Leben in der ihm aufgezwungenen Männer-WG mittlerweile unerträglich geworden. Stündlich entdeckte er mehr an Blohfeld, das ihn störte. Ob es nun
Weitere Kostenlose Bücher