Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
wird von Tag zu Tag größer. Ich vermisse unser altes Haus mit dem Lavendelbeet, ich vermisse deine wunderbare Fischsuppe, ich vermisse inzwischen sogar den Mistral! Jetzt ist es glücklicherweise nur noch eine Frage von Tagen, bis ich meine Angelegenheiten hier geregelt habe.
Fink sah kurz auf und forschte in Pauls Gesicht nach einer Reaktion. Doch der drängte ihn weiterzulesen.
Ich will mich jetzt nicht länger in meine Sehnsüchte nach Grimaud flüchten. Liebe Tante, ich habe Angst. Große Angst sogar. Ich habe …
Fink zögerte erneut.
»Was ist los?«, wollte Paul wissen.
»Die Schrift wird an dieser Stelle recht klein und unleserlich.« Der Pfarrer rückte seine Brille zurecht.
Ich habe einen Fehler gemacht und stecke in Schwierigkeiten. Hier gibt es niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Meine Freundin Hannah, bei der ich wohne, kann ich nicht mit der Sache belasten; es wäre zu gefährlich für sie. Mein Chef bei der Zeitung, für die ich jetzt jobbe, würde die Geschichte nur für seine Zwecke missbrauchen. Und ein Bekannter von Hannah, ein Fotograf, der mir eigentlich ganz gut gefällt, ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich in meine Lage hineinversetzen könnte.
Fink warf Paul einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er fortfuhr.
Liebe Tante, ich bin verzweifelt. Ich habe in meinem Leben einige leichtsinnige Dinge getan. Die Angst aber, die ich jetzt fühle, ist anders und viel konkreter. Ich kann nicht einfach zur Polizei gehen, weil ich eine Fremde bin in diesem Land – und würde man mir überhaupt glauben? Was gäbe ich darum, wenn wenigstens Onkel Louis bei mir wäre. Der weiß immer Rat. Doch der Reihe nach, du musst mich sonst ja für völlig verwirrt halten. Du weißt, warum ich in Nürnberg bin – und ich weiß, dass du das für keine besonders gute Idee hältst. Aber du kennst mich gut genug: Seit ich ein kleines Mädchen war, habe ich für mich so etwas wie einen Vater gesucht. Mit der einseitigen Liebe zu älteren Männern kann man den Verlust des eigenen Vaters nicht ausgleichen; das habe ich inzwischen eingesehen. Nun, nachdem Mama gestorben ist, sah ich keinen Grund mehr dafür, ihn nicht endlich aufzusuchen.
Wie du ebenfalls schon weißt, habe ich ihn tatsächlich gefunden. Ich habe es erst nicht wirklich für möglich gehalten, dass Mama und er – wie soll ich es ausdrücken? Du musst dir vor Augen halten, dass er mir bei unserer ersten Begegnung völlig fremd vorkam. Von einer äußeren Ähnlichkeit bin ich ja gar nicht ausgegangen, aber da war nicht einmal ein Anflug von Verbundenheit.
Wieder sah Fink auf. »Um was geht es hier eigentlich?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung. Lies weiter, dann werden wir es erfahren.«
»Also gut«, sagte Fink argwöhnisch und ließ seinen Finger weiter über das zerknitterte Papier gleiten.
Es war nicht so einfach, mit ihm in Kontakt zu treten, denn Vater ist ein bekannter Mann in dieser Stadt. Man kommt kaum an ihn heran. Inzwischen muss ich wohl sagen: Er war ein wichtiger Mann.
Liebe Tante, setz dich jetzt besser hin, bevor du weiterliest, und mach dir um Himmels willen keine allzu großen Sorgen um mich. Ich weiß, dass das Folgende sich schlimm anhören muss. Ich habe auch lange mit mir gerungen, ob und wie ich dir diese ganze verfahrene Situation schildern soll.
»Das klingt ja mehr als alarmierend«, sagte Fink zunehmend besorgt.
»Lies weiter«, entgegnete Paul. Fink nickte langsam.
Die Gelegenheit, ihn allein zu sprechen, ergab sich vor drei Tagen. Unter dem Vorwand, als Studentin ein Referat über Logistiklösungen in der Lebensmittelindustrie zu schreiben, rief ich an und wurde – obwohl ich es kaum erwartet hatte – tatsächlich zu ihm durchgestellt. Am Abend dann lud er mich in seine Villa ein. Darüber habe ich mich schon gewundert. Keine Ahnung, was er sich von diesem privaten Treffen mit einer für ihn unbekannten jungen Frau versprochen hatte. Jedenfalls: Da stand ich nun. Ich – das Ergebnis eines dreiundzwanzig Jahre zurückliegenden Urlaubsflirts zwischen ihm und Mama an irgendeinem einsamen Strand in der Bucht von St. Tropez. Stell dir nur vor, was der für Stielaugen gemacht hat, als ich ihm erzählte, wer ich in Wirklichkeit bin. Liebe Tante, das hättest du sehen müssen! Er hat es zeit seines Lebens verdrängt, dass es noch eine Wiesinger gibt – nämlich mich!
Entsetzt sah Fink erneut auf. »Was?« rief er aus. »Antoinette war
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