Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Tochter! Aus Mamas Hinterlassenschaft weiß ich, dass sie ihm von mir geschrieben hat. Er hat nie auf ihre Briefe geantwortet. Aber ich bin sicher, dass er uns nicht ganz vergessen hat. Er muss mich erwähnt haben in seinem Nachlass! Er muss, er muss …
Inzwischen breche ich hier meine Zelte ab. Ich habe mich schon bei der Mitfahrzentrale eintragen lassen und packe bald meine Koffer.
Liebe Tante, bitte mach dir bis dahin keine allzu großen Sorgen um mich. Natürlich ist mir klar, dass ich mich in Gefahr befinde. Aber seit dem Mord sind einige Tage vergangen, und bisher ist nichts passiert. Das beruhigt mich ein wenig und hilft mir, einen kühlen Kopf zu bewahren. Bis bald, deine Antoinette
Fink ließ den Brief traurig sinken. »Wie kann man nur so naiv sein«, murmelte er.
Paul stimmte dem Pfarrer zu. »Sie muss völlig durcheinander gewesen sein. Einerseits war sie traurig, dass sie ihren Vater so schnell wieder verloren hatte. Andererseits bot sich durch den Mord plötzlich ein Ventil für den Kummer und vor allem die Wut, die sich in ihr viele Jahre lang auf ihren treulosen Erzeuger aufgestaut hatte.«
»Ja«, sagte Fink, »für Antoinette war damit ein leidiges Thema radikal, aber zumindest endgültig erledigt. Für den Mörder dagegen wurde es mit Antoinette als Zeugin erst richtig kompliziert.«
»Der Mörder«, murmelte Paul und sah den Pfarrer besorgt an. »Schreibt sie wirklich nicht, wer es war? Ich meine: Gibt es denn überhaupt keine zusätzlichen Hinweise?«
Fink nahm noch mal den Brief zur Hand. »Nein. Der Brief endet genau so, wie ich ihn dir vorgelesen habe. Keinerlei Hinweis auf die Identität des Mörders. Aus dem Brief geht ja nicht einmal das Geschlecht des Täters hervor. Sie hat eine sehr indifferente Art gewählt sich auszudrücken – vielleicht aus Angst?«
Paul fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Da hast du Recht«, sagte Fink besänftigend. »Gar nichts stimmt in dieser schrecklichen Angelegenheit.«
»Das meine ich nicht«, setzte Paul an. »Mir ist der Sinn dieses Briefes nicht klar. Warum hat Antoinette ihre Tante nicht ganz einfach angerufen?«
»Vielleicht hat die Tante kein Telefon?«
Paul schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es muss mehr dahinterstecken.« Er blickte auf. »Wenn Antoinette dieser Brief so wichtig war – warum hat sie ihn dann unzureichend frankiert?«
»Das kann an ihrer Nervosität gelegen haben«, sagte der Pfarrer wenig überzeugt.
Paul sah ihn ratlos an.
»Wie dem auch sei«, sagte Fink nun bestimmt und fixierte ihn aus seinen hervorstehenden Augen. »Du musst den Brief sofort der Polizei übergeben oder besser noch Katinka. Es eilt!«
Paul zwang sich dem Pfarrer zuzuhören. Doch viel zu viel ging jetzt in seinem Kopf herum. Er streckte seine Hand aus.
»Gib mir den Brief, bitte.«
Fink sah ihn streng an. »Wirst du ihn weiterreichen?«
Paul war klar, dass Antoinettes Brief ein erstklassiges Entlastungsschreiben für Blohfeld darstellte, und war sich gerade deshalb nicht sicher, wer der geeignete Adressat dafür sein würde.
»Wirst du?«, wiederholte Fink eindringlich.
Paul deutete ein Nicken an und nahm ihm den Brief ab.
35
Zu Hause, in seinem Loft, wurde er bereits erwartet.
»Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?« Blohfeld kam ihm im Flur entgegen. Er trug eine von Pauls ausgeblichenen Jeans und eines seiner weit fallenden weißen T-Shirts sowie Pauls Hausschlappen. »Zum Einkaufen in der Stadt waren Sie ganz sicher nicht. Wo sind denn, bitte sehr, Ihre Einkaufstüten?«
Paul registrierte mit gemischten Gefühlen, dass Blohfeld sich mehr und mehr in seinem Leben einnistete, doch er erzählte kurz, was er im Laufe des Tages in Erfahrung gebracht hatte.
Als er auf Antoinettes Brief zu sprechen kommen wollte, fiel sein Blick auf seinen Sofatisch, auf dem wahllos etliche CDs mit entnommenen Booklets verstreut lagen. Einige der Silberscheiben lagen sogar auf dem Fußboden.
Er spürte den Zorn in sich aufsteigen. »Blohfeld, das geht zu weit!«
Der Reporter sah ihn fragend an.
Paul hob eine der CDs auf: eine vergriffene Auflage eines der seltenen Live-Konzerte von Alan Parson. »Wenn ich eines hasse, ist es, wenn meine Sachen ramponiert werden!«
Blohfeld nahm ihm die CD mit spitzen Fingern ab und beäugte sie kritisch. Dann ließ er sie auf den Tisch fallen und sagte: »Pedant.«
Nur mit Mühe fand Paul zum eigentlichen Thema zurück und machte Blohfeld mit dem Inhalt von Antoinettes Brief
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