Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Blohfeld lapidar. »Zweitrangig. Hören Sie den AB doch selbst ab. Er sagte, dass er im Sommerhaus Dokumente gesammelt hat, die den illegalen Wurstimport der Wiesingers belegen würden.«
»Aber das kann doch wichtig sein«, wunderte sich Paul über Blohfelds Gleichgültigkeit.
»Eben nicht. Denn Imhof musste eingestehen, dass ihm die Dokumente abhanden gekommen sind. Im Sommerhaus konnte er sie jedenfalls nicht mehr finden.« Blohfeld grinste.
»Aber dank Ihrer Nacht- und Nebelaktion vor und hinter den Werktoren der Wiesingers sind diese Dokumente ja nun ohnehin überflüssig geworden.« Dann zog er die Badezimmertür hinter sich zu; kurz darauf hörte Paul das gedämpfte Prasseln der Dusche.
Paul nutzte die unverhoffte Ruhe und streckte sich auf seinem Sofa aus.
Er hatte vor, ein wenig abzuschalten, aber das gelang ihm nicht. In seinen Augen blieb Doro Wiesingers Rolle dubios. Warum, um alles in der Welt, war sie in der Mordnacht nach Nürnberg gerast, während sich ihr Mann in einem Bordell amüsierte? Aus Angst vor dem Verlust ihres Vermögens, wie es Blohfeld vermutete? Und warum hatte sich das Ehepaar anfänglich gegenseitig Alibis gegeben, indem beide zunächst ausgesagt hatten, nach Mitternacht brav in ihr Hotelzimmer gegangen zu sein? War Andi Wiesinger etwa mit im Boot und duldete stillschweigend den gewaltsamen Tod seines Vaters?
Paul, dem das amerikanische Frühstück inzwischen ziemlich schwer im Magen lag, konnte sich ausmalen, was als Nächstes passieren würde: Katinka würde Doro Wiesinger sicherlich sehr bald ein paar unangenehme Fragen stellen. Die Wiesinger würde sich schwer tun, ihre nächtliche Autofahrt zu erklären. Oder auch nicht: Denn vielleicht hatte sie sich – genau wie ihr Gatte – in jener Nacht einfach nur außerehelich amüsiert. Die gegenseitigen Alibis hätten dann lediglich den profanen Zweck gehabt, den Schein einer heilen Ehe nach außen hin zu wahren.
Die Chancen standen fifty-fifty. Je länger Paul darüber nachdachte, desto weniger konnte er sich vorstellen, dass man den Wiesingers letztlich ernsthaft an den Karren fahren konnte. Sicher: Die Strafen für den Bratwurstbetrug und die Steuerhinterziehung würden das Wiesinger’sche Familienvermögen schrumpfen lassen. Aber was die Morde anbelangte – hatte Katinka ausreichend schwerwiegendes Beweismaterial in der Hand?
Paul überlegte: Er war ja noch immer mit der Konzeption und Gestaltung des neuen Würstchenkatalogs betraut. Er hatte also einen guten Vorwand, noch einmal im Hause Wiesinger vorbeizuschauen.
Ein nervöses Kribbeln stieg in ihm auf, als er – ohne den noch immer im Badezimmer beschäftigten Blohfeld in Kenntnis zu setzen – erneut sein Atelier verließ.
42
Als Paul am Werktor der Wiesinger-Fabrik eintraf, grüßte er selbstbewusst ins Pförtnerhäuschen. Der Pförtner blickte ihn unbeeindruckt an. »Ja?«
»Ich bin hier beschäftigt«, sagte Paul. »Zumindest zeitweise. Ich bin der Fotograf für den neuen Imageprospekt.«
Der Pförtner verzog keine Miene. »Den Betriebsausweis, bitte.«
»Sie verstehen nicht recht«, erklärte Paul. »Ich bin freier Fotograf, aber von Herrn Wiesinger persönlich beauftragt.«
Sehr langsam und übertrieben deutlich wiederholte der Pförtner: »Ich brauche einen Betriebsausweis.«
»Begreifen Sie nicht? Ich fotografiere für Ihren Chef!«
Pauls Drohgebärde fruchtete nichts. Sein Gegenüber griff zum Telefon.
»Wen rufen Sie an?«, fragte Paul.
»Das Vorzimmer von Herrn Wiesinger.«
Paul hob beschwichtigend die Hände. »Das wird nicht nötig sein. Es gibt ganz bestimmt eine Liste der zugangsberechtigten Personen. Dort bin ich sicher erwähnt.«
Der Pförtner behielt seinen unbeteiligten Gesichtsausdruck bei, als er den Hörer auflegte und ein abgenutztes DIN-A4-BUCH zur Hand nahm. »Wie, sagten Sie, war der Name?«
»Flemming.«
Im selben Moment ertönte die dröhnende Hupe eines Lkw.
»Einen Moment, bitte«, sagte der Pförtner zu Paul und wandte sich einem hinter ihm angebrachten Bildschirm für die Zufahrtskontrolle zu.
Während sich das Gespräch um Ausweise und Zugangsberechtigungen mit dem Fahrer des Lkw wiederholte, nutzte Paul die Zeit, um aus blanker Neugierde einen Blick in das Besucherbuch des Pförtners zu werfen. Er beugte sich über den Fensterrahmen der Pförtnerloge und blätterte vorsichtig durch die Seiten.
Pauls Interesse war keineswegs zielgerichtet. Umso mehr überraschte es ihn, auf einen sehr vertrauten Namen zu
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