Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
nickte. »Ja. Da bewahre ich lieber die Illusion, als die Beschädigung eines so kostbaren und einzigartigen Kulturguts zu riskieren.«
»Welcher Ihrer Kollegen wäre denn weniger zimperlich?«, fragte Paul.
Die Frau sah ihn fragend an. »Sie erwarten darauf doch nicht wirklich eine Antwort, junger Mann?«
Jasmin sprang Paul zur Seite, indem sie sich erkundigte: »Welcher Ihrer Kollegen ist besonders enttäuscht darüber, dass es mit der Untersuchung nun leider nichts wird?«
Die Forscherin zögerte. Sie strich sich mit der rechten Hand über ihren Dutt. Schließlich sagte sie sehr leise: »Sprechen Sie mit Professor Dr. Rubach.« Sie sah sich wieder nach den anderen Wissenschaftlern um. »Ingolf Rubach. Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Reliquienforschung. Manche von uns belächeln ihn wegen seiner gewagten Thesen, aber sprechen Sie mit ihm. Ich halte ihn für einen kompetenten Analysten. Und als Dozent ist er allemal ein Unterhaltungsgenie.«
Ob das nun ein Lob war, wollte Paul dahingestellt sein lassen. Dennoch waren sie dankbar für diesen Hinweis.
30
Prof. Dr. Ingolf Rubach war leicht zu identifizieren. Nachdem sie weitere Kongressteilnehmer angesprochen hatten, die ihn – mit zumeist missbilligendem Ausdruck – als vollschlanken Endvierziger mit wallendem Haar, Vollbart, starker Brille und Abneigung gegen den sonst üblichen Krawattenzwang beschrieben, fanden sie den Forscher auf einer verwaisten Bank am äußeren Ende der Halle. Er saß allein über ein Notebook gebeugt und war offenbar tief in Gedanken versunken.
Paul und Jasmin wechselten einen fragenden Blick, dann räusperte sich Jasmin, worauf der Professor zu ihnen aufblickte.
»Äh . . . – Kann ich Ihnen helfen?« In seiner Stimme schwang vorsichtige Zurückhaltung mit.
»Flemming ist mein Name. Paul Flemming«, stellte Paul sich vor. »Das ist meine Kollegin, Kriminaloberkommissarin Stahl.« Jasmin, die bereits ihre Hand ausgestreckt hatte, verschluckte sich an ihren eigenen Begrüßungsworten und sah Paul böse an.
»Ich kann mir denken, weshalb Sie gekommen sind«, sagte Rubach und räumte einen Stapel Computerausdrucke von seinem Nachbarsitz. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Es geht um den geplanten Diebstahl der Reichskleinodien, richtig?«
»Wir sind nicht als offizielle Ermittler zu Ihnen gekommen«, stellte Jasmin klar und trat Paul mit ihrem Hacken auf den Schuh, als sie sich setzte.
»Dennoch wäre es hilfreich, wenn Sie uns über einige Hintergründe aufklären könnten«, sagte Paul und ignorierte den Schmerz.
Rubach kratzte sich am Bart. »Hintergründe? Also gut.« Er machte eine weitausholende Handbewegung. »Sehen Sie sich um. Wir haben hier einige sehr kluge Köpfe versammelt. Experten der Archäometrie, der Archäologie, Chemie, Physik, Mineralogie, Kapazitäten aus dem Gießerei – und Hüttenwesen, Kreationisten, Religionswissenschaftler – ja, wahrscheinlich sogar den einen oder anderen Spion des Vatikans. Und wofür das alles?« Er ließ die Hände schlaff in seinen Schoß fallen. »Für nichts und wieder nichts.«
»Aber der Kongress befasst sich ja nicht nur mit der Heiligen Lanze«, warf Paul ein. »Sie werden sicherlich genug andere Themen. . .«
Weiter kam er nicht, denn Rubach unterbrach ihn barsch: »Papperlapapp! Nürnberg war die Chance des Jahrhunderts für uns, um die Heilige Lanze zu erforschen. Eine solche gebündelte Kompetenz aus Fachwissen, Erfahrung und Intelligenz werden wir auf internationaler Ebene kein zweites Mal zusammenbekommen.«
Der Professor hackte wild auf seine Tastatur ein. Er ließ eine dreidimensionale Darstellung der Heiligen Lanze auf dem Bildschirm erscheinen, die sich langsam um ihre eigene Achse drehte. »Wir hätten all die offenen Fragen klären können: Wo und wann genau wurde die Lanze hergestellt? Bronze, Messing, Gold, Silber – wie sieht die exakte Zusammensetzung der Mantelschichten aus, auch abhängig von Umschmelzungen und ähnlichen späteren Einflüssen? Und schließlich der Kern: Besteht er – wie der Nagel im Kreuz des Heilands – tatsächlich aus Eisen? Falls ja, ist er dann erschmolzen oder terrestrisch gediegen?«
»Wie sieht denn ihre persönliche Theorie aus?«, unterbrach Jasmin den Redefluss des Professors.
Rubach sah sie einen Moment irritiert an. Dann fand er den verlorenen Faden wieder und sagte sehr bestimmt: »Ich bin Pragmatiker. Nach allem, was die Historiker über die sehr wechselvolle Geschichte der Heiligen Lanze herausgefunden
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