Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
Jasmin sprach sie an:
»Entschuldigen Sie.«
Die Frau wandte sich ihr zu. »Ja, bitte?«
»Verzeihen Sie unsere Neugierde: Hat es denn einen Zweck, den Kongress fortzusetzen, wenn Ihnen Ihr eigentliches Untersuchungsobjekt entzogen wurde?«, kam Jasmin gleich zum Punkt.
Die Frau stutzte einen Moment. Dann sah sie Jasmin und Paul freundlich an und sagte: »Aber sicher. Es wäre zwar reizvoll gewesen, sich über das Gebot der Unberührbarkeit hinwegzusetzen und tief ins innerste Geheimnis des Objekts einzudringen, aber wir respektieren selbstverständlich die Haltung der Kunstgeschichtler und Sicherheitsexperten. Außerdem sollte es ja bloß das i-Tüpfelchen auf den Erträgen unserer Tagung sein«, meinte sie lächelnd. Sie suchte vergeblich nach einen Namensschildchen an Jasmins T-Shirt und erkundigte sich: »Woher kommen Sie, bitte? Sind Sie Journalisten?«
»Nein«, antwortete Jasmin.
»Ja«, widersprach ihr Paul. »Wie wollten Sie der Heiligen Lanze denn ihre Geheimnisse abtrotzen?«
»Oh«, sagte die Kongressteilnehmerin etwas verlegen. »Da fragen Sie die Falsche. Ich selbst bin Radiologin. Ich kann Ihnen nur sagen, dass unter anderem ein spezielles Elektronenmikroskop, das Environmental Scanning Electron Microscope, eingesetzt werden sollte.«
»Ein was?«, fragte Paul.
»Eine raffinierte Weiterentwicklung des Rastertunnelmikroskops«, flüsterte ihm Jasmin zu.
»Es tastet im Vakuum Oberflächen mit einer winzig kleinen Nadel berührungsfrei ab«, erläuterte die Wissenschaftlerin geduldig. »Dadurch lässt sich ein topografisches Abbild der atomaren Landschaft eines Gegenstandes gewinnen.«
»Und die Heilige Lanze würde bei dieser Prozedur nicht zu Schaden kommen?«, wollte Paul wissen.
»Dadurch nicht«, sagte die Forscherin.
»Aber durch andere Untersuchungsmethoden?«, hakte Paul nach.
»Das will ich so nicht sagen«, wich die Frau aus.
»Nennen Sie doch mal ein Beispiel«, forderte Jasmin sie auf.
Die Frau wiegte den Kopf. Sie sprach jetzt leiser: »Einige Analysten bevorzugen die Getty-Methode.«
»Was kann man sich darunter vorstellen?«, fragte Paul.
Die Forscherin schaute sich nach ihren Kollegen um, bevor sie weitersprach: »Mit einer wassergekühlten Diamantsäge zerkleinert man eine kleine Probe des Untersuchungsobjekts. Das ist nicht sehr fein, aber effektiv. Zugegeben: Es erleichtert die Analyse auch in meinem Sachgebiet, der Röntgenfluoreszenz. Die Bestandteile der mit Strahlung beschossenen Metallprobe erzeugen entsprechend ihrer Zusammensetzung ein charakteristisches Spektrum.«
Paul konnte das nicht ganz nachvollziehen: »Warum ist es denn nötig, dafür ein Stück aus der Lanze herauszusägen?«
»Bei harten, dickwandigen Gegenständen reichen die Röntgenstrahlen oft nicht aus, um das Objekt vollständig zu durchdringen«, erklärte die Wissenschaftlerin. »In solchen Fällen erreicht man höchstens noch mit Gammastrahlen zufriedenstellende Ergebnisse – oder aber man konzentriert sich auf die Untersuchung einer zuvor herausgelösten und zerkleinerten Probe.«
»Wollten Sie dieses Verfahren bei der Heiligen Lanze wirklich anwenden?«, fragte Jasmin nun direkt.
»Nein«, sagte die Wissenschaftlerin entschieden. »Ich nicht, aber es wäre – wie gesagt – effektiv.« Dann lächelte sie schelmisch und fragte: »Kennen Sie nicht die nette Episode über die Campbell’s – Suppendosen?«
Paul und Jasmin sahen sie verständnislos an.
»Ganz normale Dosen aus dem Supermarkt, aber Andy Warhol hatte sie per Namenszug zum Kunstwerk erhoben. Sie waren schnell Sammlerstücke und erzielten Liebhaberpreise von mehreren tausend Dollar. Da rangen die Experten darum, wie man die Kunstwerke dauerhaft erhalten konnte, ohne dass der Inhalt irgendwann gären würde und die Dosen explodierten.«
»Und was hat man unternommen?«, fragte Paul.
»Es bildeten sich zwei Fraktionen. Die einen wollten einen Papierkonservator das Etikett ablösen lassen, anschließend die Naht der Dose auftrennen, den Inhalt Zwischenlagern und mit Konservierungsmitteln auffrischen oder den Sauerstoffgehalt senken, damit die Suppe stabil bleibt. Anschließend hätte man alles wieder in den ursprünglichen Zustand versetzt.«
»Und die andere Fraktion?«, erkundigte sich Jasmin.
»Die anderen wollten einfach ein Loch hineinbohren, den Inhalt ablassen und die Suppe entsorgen.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie für solche Brachialmethoden nicht zu haben, stimmt’s?«, fragte Jasmin.
Die Frau
Weitere Kostenlose Bücher