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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Lindquist
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weiteres Mal mit der Hand drauf. Plötzlich fiel die Verblendung des Sockels ab und lag vor meinen Knien.
    Mein Herz blieb stehen.
    Die Hand zitterte, als ich das Messer weglegte. Ich beugte mich runter und sah unter den geöffneten Sockel. Staub, Staub und noch mal Staub. Einige Silberfischchen schwirrten herum, um dem Tageslicht zu entkommen, das ich eingelassen hatte. Und hinter dem Staub und den Silberfischchen stand ein Karton.
    Ich schrie auf.
    Dann zog ich den Karton hervor.
    Jemand hatte ihn flacher gemacht, indem er oben ein paar Zentimeter weggeschnitten hatte; er passte genau unter den Sockel. Halbe Buchstaben einer Firmenmarke bedeckten die Seiten des Kartons, aber ich konnte die Buchstabenreste nicht deuten. Der Deckel hatte keine Firmenmarke. Aber jemand hatte einen Schädel und zwei gekreuzte Knochen auf die graubraune Oberfläche gezeichnet.
    Ich hatte Pauls Schatzkiste gefunden.
    Ich lächelte den Karton an, als wäre er ein lebendiges Wesen. Ein geliebtes Wesen. Dann fegte ich den Staub weg und setzte die Verblendung provisorisch wieder auf.
    Ich schauderte, als ich das Gewicht des Kartons bemerkte.
    Ich hob den Deckel. Dort lag es. Zusammen mit einigen Briefen, Fotos und anderen Papieren. Fast achtzehn Jahre hatte der Karton dort gestanden und auf mich gewartet. Staub und Schmutz von achtzehn Jahren hatten den Eingang zu Pauls Versteck zuwachsen lassen. Aber ich hatte es doch gefunden.
    Vorsichtig nahm ich das Tagebuch hoch. Es war dasselbe Notizbuch, das Paul auf dem Foto vom Dachboden in der Hand hielt. Oder zumindest ein ähnliches. Ein beschriftetes Etikett prangte auf dem Umschlag, aber diesmal war es nicht Mamas Handschrift. Es muss deine Handschrift gewesen sein, Paul, dachte ich. Und las:
    Paul Lundberg. Tagebuch Nr. 4,24. Dezember 1968.
    »Das hier muss dein letztes Tagebuch gewesen sein«, flüsterte ich.
    Ich legte das Tagebuch zur Seite und nahm den Rest des Inhalts heraus. Unter anderem waren da noch zwei weitere Fotos von dem anderen Jungen. Das erste sah aus wie ein Klassenfoto. Er sah direkt in die Kamera, den Kopf ein bisschen geneigt und mit einem Lächeln auf den Lippen. Das andere Bild - ein Ganzkörperfoto in Farbe - zeigte ihn an einem Strand. Er steht in der Brandung, trägt einen gelben Bademantel. Er lacht dem Fotografen zu und streckt seine Arme aus. Wie ein Kreuz, dachte ich bei mir. Der Bademantel hat sich gelöst und offenbart - zumindest teilweise - den nackten Oberkörper des Jungen.
    Ich drehte das Foto um. Und jetzt war es dieselbe Handschrift wie in dem Brief, den ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Mému malému Princi. Tu ů j Milenec.
    »Milenec! «, flüsterte ich. »Das war also dein Name .«
    Ich betrachtete den lachenden Milenec.
    »Wo bist du hingegangen, nachdem Paul, nachdem Princi gestorben ist ?«
    Ich nahm die drei Briefumschläge, sie waren an Paul adressiert. Es war Milenecs Handschrift.
    Ich lehnte mich in meinem Bett zurück. Das Zimmer schien sich um mich zu drehen. Ich war völlig außer mir. Und verwirrt.
    Zum ersten Mal zweifelte ich an meinen Nachforschungen. Hatte ich wirklich das Recht, in den verborgenen Dingen meines Bruders herumzuschnüffeln? Hatte ich das Recht, nach dem Geheimnis meines Bruders zu suchen? Und wer - oder was - gab mir in diesem Fall das Recht dazu?
    Ich schloss die Augen, flüsterte deinen Namen und hoffte, dass du dich mir auf irgendeine Weise mitteilen würdest, dass du mir auf irgendeine Weise deine Zustimmung geben würdest.
    Aber ich hörte nichts.
    Ich stand hastig auf und ging in die Küche. Die Reste meines Frühstücks standen noch auf dem Küchentisch. Ich stellte das Radio an und räumte ab. Dann ließ ich Wasser in die Spüle und wusch ab.
     
    Eine halbe Stunde später ging ich zurück in mein Zimmer. Ich blieb in der Tür stehen und betrachtete den Karton und seinen Inhalt.
    Einer der Briefumschläge war vom Bett gefallen, als ich aufgestanden war.
    Ich ging ins Zimmer und hob ihn auf. Eine Ecke des Briefes schaute aus dem Umschlag.
     
    Mein Blick fing ein paar Wörter auf: » ... bedeutet Bruder ...«
    Mein Herz überschlug sich.
    Ich nahm den Brief heraus.
     
    Ahoi m ů j Brat ř e!
    Ich träume jeden Tag von Dir. Von den Nächten nicht zu sprechen. Deshalb musste ich Dir einfach schreiben, Princi.
    »Bratr« bedeutet Bruder auf Tschechisch. Mama hat erzählt, dass einige Jungs, die sie in Prag kennengelernt hatte (also, die zusammen waren), einander ‚bratr‘ genannt hätten. Deshalb könnte man

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