Paul, mein grosser Bruder
ja sagen, dass du und ich, geschwisterlos wie wir nun mal sind, jetzt jeder seinen Bruder bekommen hat. Ahoi m ů j Brat ř e! (Hallo, mein Bruder!) Und vergiss nicht, Deine Eltern zu fragen, ob Du zur Walpurgisnacht bei mir übernachten darfst.
Wir sehen uns am Freitag. Kuss & Umarmung!
P.S.
Ich lachte. Das war das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Paul hatte einen Bruder bekommen. Und seinem Bruder kann man erzählen, was man will.
Ich drehte den Brief um. Die Rückseite war leer.
»Warum schreibst du P.S., wenn du kein Postskriptum schreibst, Milenec ?«
Ich legte mich mit den beiden anderen Briefen ins Bett.
Ahoi Paul!
Heute habe ich meiner Mama von Dir erzählt. Sie wirkte zuerst traurig, aber als ich ihr mehr von Dir erzählte und was ich für dich empfinde, wurde sie etwas fröhlicher. Aber sie meint, ich sollte das nicht Papa erzählen. Wenigstens noch nicht. Sie sagte, sie würde mir später dabei helfen, ihm das zu erzählen. Und dann hat sie gefragt, wie sehr ich dich mag. ‚Stává se smrteln ě d ů le ž itým‘ habe ich geantwortet. Da hat sie gelacht. (Das bedeutet, dass ich nicht ohne Dich leben kann, Princi.) Und dann hat sie von diesen Jungs erzählt, die sie in Prag kennengelernt hatte. Aber es sei schwierig, in der Tschechoslowakei ein ‚bratr‘ zu sein. Es gibt so viele Vorurteile. Und heute mit der neuen Sowjetregierung ist es auch nicht gerade leichter.
Früher fühlte ich mich etwas unwohl, ein ‚bratr‘ zu sein. Manchmal war ich sogar niedergeschlagen. Aber jetzt, seit ich Dir begegnet bin, habe ich nichts mehr dagegen.
So, das reicht jetzt. Wir sehen uns bald, můj bratr!
Milenec
Ich faltete den Brief zusammen und legte ihn zurück. Dann nahm ich den dritten und letzten Brief. Nach einer Weile begriff ich, dass dieser Brief der erste gewesen sein muss, den Milenec an meinen Bruder geschrieben hatte.
Hallo Paul!
Wie glücklich ich darüber bin, dass Magister Hakanson mich überredet hat, in Deiner Klasse Modell zu sitzen. Sonst wären wir uns nie begegnet. Und ich habe gespürt, dass du etwas Besonderes warst, als du in den Klassenraum kamst. Und ich habe bemerkt, dass du mich angesehen hast. Obwohl ich mich kaum traute, Deinen Blick zu erwidern. Es reichte schon völlig, dass ich komplett nackt vor Deiner Klasse saß. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so nervös wäre, wie ich es gewesen bin. In meiner Familie hatten wir nie ein Problem damit, uns einander nackt zu zeigen. Aber es war etwas ganz anderes, allein nackt da oben zu sitzen auf dem Pult vor einer ganzen Klasse. Besonders, nachdem ich dich in den Klassenraum habe kommen sehen. Irgendwie habe ich gespürt, dass du so warst wie ich. Hast du das auch gespürt?
Und ich war so froh, dich danach auch außerhalb der Schule zu sehen. Ich habe sowohl in dieser Nacht als auch in der Nacht darauf von Dir geträumt. Mama und Papa sagten, ich würde so glücklich wirken. Allerdings traute ich mich nicht, ihnen zu erzählen, warum ich glücklich bin. Sie wissen nichts. Aber eines Tages werde ich es ihnen erzählen.
Das Bild, das ich mitschicke, ist im vergangenen Jahr in der Schule gemacht worden. Ich dachte, dass Du es vielleicht haben möchtest. Ich wäre superglücklich, wenn ich ein Foto von Dir haben könnte.
Ich möchte Dich wiedersehen, Paul. Bald, meine ich. Wir könnten uns am Samstag in der Innenstadt treffen. Dann könnten wir spazieren gehen oder so. Wir könnten uns doch gegen elf Uhr vor Epa in der Fußgängerzone treffen. Wenn Du nicht kannst, ruf mich doch an. Aber ich hoffe doch, dass Du kannst. Und dass du möchtest. Ich liebe Dich, Paul.
Umarmung von Petr!
»Petr?«
Zuerst war ich verdutzt.
»Petr? Aber du heißt doch Milenec !« Und dann erinnerte ich mich.
Ich holte meine Schatzkiste hervor und suchte nach den Fotos von Milenec.
»Mist! Die hat sich doch Daniel ausgeliehen .« Aber plötzlich ergab es ein Bild.
Ich blätterte zu der Seite vor, auf der das Foto gewesen war. »Genau!«
Es war der Text auf dem Bild, wo ich den Namen schon mal gesehen hatte.
Kammarviken, März 1969. Petr je tady.
Ich lächelte und fühlte mich glücklich. So musstest du dich gefühlt haben, als du die drei kleinen Füchslein gesehen hast.
Ich sah auf meinen Wecker. Zwanzig vor zwei. Gut. Dann macht die Bücherei bald auf.
»Haben Sie ein Tschechisch-Schwedisches Wörterbuch ?« , fragte ich die Frau am Tresen.
Sie nahm ihre Brille ab und sah mich an.
»Nein. Ich glaube nicht, dass
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