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dass der Nonsens jemandem auffällt. Das ist bei komplexeren Systemen schon sehr viel fraglicher, und bei hochkomplexen, wie die Bankenkrise zeigte, fast unmöglich. Abgesehen von simplen Programmierfehlern in Tabellenprogrammen, die zuweilen einen Unterschied von mehreren Millionen ausmachten, liegt ein Hauptgrund in der kognitiven Überforderung auf der menschlichen Seite. Durch falsche Eingaben potenzieren sich Fehler, die das Programm selbst nicht erkennen kann und die der Mensch übersieht oder nicht mehr begreift - zu den dokumentierten Fällen zählen Fehlschätzungen, die einen Unterschied von mehreren Hundert Millionen Dollar ausmachten. 31
Auch die Finanzkrise hat gezeigt, dass die entscheidenden Fehler im System nicht erkannt werden. Denn mit den Informa-tionen, die der technische Apparat speichert, wächst das Vergessen unserer biologischen Gedächtniszentren. Aufmerksamkeitsverlust und Blackouts kennt mittlerweile jeder. Die nächste Verschärfungsstufe ist der Erinnerungsverlust.
John von Neumanns erster Computer, mit dem in gewisser Weise die Geschichte der modernen Rechner beginnt, hatte in den fünfziger Jahren ein Gedächtnis von 5 Kilobyte. Die Entwicklung der Computer seither war immer eine Geschichte neuer Prozessorgeschwindigkeiten und neuer Speicherrekorde, die Evolution eines immer besser werdenden Gedächtnisses.
Der Intel-Chef Gordon Moore hatte 1965 die berühmte These aufgestellt, dass sich die Geschwindigkeit der Computer mit jeder neuen Version integrierter Schaltkreise verdoppelt. Mit unausweichlichen Konsequenzen für den Benutzer: Man kaufte sich ein neues Gerät, weil neue Software neue Leistung benötigte, und während man mit immer besseren Wortverarbeitungsprogrammen, Internetapplikationen und Computerspielen beschäftigt war, warteten bis in die späten neunziger Jahre Informatiker und Cyberpropheten darauf, dass irgendwann die Maschinen die Schallmauer zur menschlichen Intelligenz durchstoßen würden.
Stattdessen geschieht seit dem Triumph des von menschlicher Intelligenz gespeisten Internets etwas Unerwartetes: Plötzlich geht es nicht mehr um die Aufrüstung der Computer, sondern um die Aufrüstung des Menschen, nicht um die Mikroprozessoren, sondern um das Gehirn, nicht um die Speicher, sondern um die Erinnerung. Es geht nicht darum, ob die Computer-Intelligenz menschlicher, sondern ob die menschliche Intelligenz synthetischer werden würde. Und es geht darum, ob es ein Moore'sches Gesetz gibt, das berechnet, um wie viel langsamer das menschliche Auffassungs- und Denkvermögen mit jeder weiteren technischen Revolution wird.
Es ist noch unklar, ob sich dahinter eine der nächsten großen Kränkungen des Menschen verbirgt oder nur die Kränkung unserer Generation, die schlichtweg überfordert ist. Jedenfalls wimmelt es seither überall von Sudoku, Gehirnjogging-Trainern und Neurotests, die Hirnforschung findet bereits in der Yellow Press statt, es gibt Reiseführer fürs Gehirn und Gebrauchsanleitungen, Publikationen zur Gedächtnis- und allgemeinen kognitiven Leistungssteigerung stürmen die Bestsellerlisten, und es entstehen ganze Wissenschaftszweige, die sich mit der Zerstreutheit wie mit einer Krankheit befassen, während gleichzeitig eine ganze kulturkritische Industrie die Verdummung der Gesellschaft durch die Massenmedien beklagt.
Wann immer eine neue Technologie - Fernsehen, Kino, Radio oder der Telegraf - geboren wurde, standen die Klageweiber an der Wiege und beweinten den absehbaren Tod von Vernunft und Gefühl. Wir haben diese neuen Technologien nicht nur alle überlebt, sondern sind, statistisch gesehen, über die Jahre immer noch klüger geworden. 32
Aber jetzt ist die Lage eine ganz andere. Die modernen Technologien, die im Internet kulminieren, sind nicht einfach nur Anbauten in unserem schönen Haus, nicht einfach nur »neue Medien«. Und die pädagogische Ermahnung der sechziger Jahre »Schau nicht so viel Fernsehen!« kann man auf diese Technologien nicht anwenden. Sie sind inzwischen Einwohnermeldeamt und Telefonauskunft, sie werden bald beurkundete Dokumente versenden dürfen und zu Kommunikationsplattformen zwischen Staat und Bürger werden. Sie werden zu Bestandteilen staatlicher Bürokratie. Wir sind bereits irreversibel abhängig von ihnen.
Das Internet - und mittlerweile auch das Handy - vereinen jede heute existierende Form technischer Kommunikation in einem einzigen Gerät: Über Schrift und Ton bis Bild und Video können sie alles
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