Payback
verbunden ist: »Ein Kind, das zwischen den Weltkriegen aufwuchs, war Teil einer Großfamilie in einer überschaubaren, städtischen Gemeinschaft und fand sich nach sechzig Jahren wieder als Großelternteil eines Kindes, das alleine vor einem großen Fernsehschirm in einem großen Haus saß. Wir waren alleine im Weltall. Unter solchen Bedingungen ist das Internet als ein unschätzbarer Segen über uns gekommen. Es erlaubt vielen isolierten Menschen, miteinander zu kommunizieren, und es hilft ausgegrenzten Menschen, Gleichgesinnte zu finden.« 52
Der Computer baut großartige Verbindungen zu anderen Menschen auf, der Preis dafür ist aber ein gestörtes Verhältnis zu uns selbst. Im Netz gibt es Blogs und geschriebene Gedanken, Lichtblicke und Geistesblitze von großer literarischer Qualität.Wem es ernst damit ist, die Welt verstehen zu wollen, dem dürfte keiner dieser Blogs entgehen, jeder einzelne wäre es wert, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Nur deshalb sind Suchmaschinen entstanden, Twitter-Empfehlungen, News-Aggregatoren, die Aufmerksamkeit bündeln sollen, sie letztlich aber sprengen.
Carr hat zwar als Erster die Kopfschmerzen beschrieben, aber seine Vermutung, dass ausgerechnet Google uns dumm mache, ist sehr anfechtbar. Weder sein Essay noch dieses Buch hier hätten ohne Google geschrieben werden können.
Das eigentliche Problem ist eines, an dem eine Suchmaschine keine Schuld trifft: Wir Benutzer können die Entlastung, die beispielsweise Google uns bringt, nicht richtig nutzen. Denn wäre es anders, würde die Welt, die heute erstmals ihr vergangenes und gegenwärtiges Wissen in Echtzeit abrufen und teilen kann, vor neuen Ideen nur so wimmeln. Und das tut sie nicht.
»Können Sie irgendetwas benennen, das beendet wurde? Kennen Sie ein Problem, das der ganze ›Diskurs‹ im Netz definitiv gelöst hat? Oder, um die Sache einfacher zu machen, nennen Sie nur eine Dummheit, die widerlegt wurde.« Dies forderte beispielsweise wutentbrannt der Schriftsteller David Brin, einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der Gegenwart, als einige einflussreiche Blogger Tolstois »Krieg und Frieden« für immer als unlesbar beerdigen wollten.
Doch es geht nicht um Intelligenz, es geht nicht um mangelnde Intelligenz oder abnehmende Intelligenz oder Verdummung. Damit Intelligenz überhaupt entsteht und bemerkt wird, benötigen wir Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit ist es, die uns mehr und mehr abhandenkommt. Sie ist, wie Maryanne Wolf es nennt, die wichtigste Energiequelle für unser emotionales und geistiges Selbst.
CHAOS IM KURZZEITGEDÄCHTNIS
er moderne Arbeitsplatz ist heute zu einem Ort äußerlicher Reglosigkeit und innerlichen Leistungssports geworden: Der durchschnittliche Bürobewohner wechselt ständig zwischen 12 verschiedenen Projekten, die er verfolgt, gerade beginnt oder noch zu Ende bringen muss. Dabei hält er es ungefähr 20 Sekunden vor einem geöffneten Bildschirmfenster aus.
Als diese Zahlen vor ein paar Jahren bekannt wurden, haben Firmen wie Microsoft viel Geld ausgegeben, um ein Betriebssystem zu bauen, das noch intuitiver, ablenkungsfreier und unsichtbarer arbeitet. Denn die Kosten dieser Ablenkung für die Produktivität - 588 Milliarden Dollar und zweieinhalb Arbeitsstunden pro Tag - sind enorm.
Bekanntlich ist das Gegenteil Realität geworden, und die Störfeuer sind durch SMS und Twitter nur noch mehr geworden, weil es geradezu der Sinn dieser Technologien ist, gegeneinander in einen Wettstreit um Aufmerksamkeit zu treten.
Somit sind die meisten Menschen heute mehrmals täglich in der Situation, dass sie vergessen haben, was sie gerade tun oder sagen wollten. Unter normalen Bedingungen ist das kein Problem: Man konzentriert sich, sucht Anker (»Was hatte ich vorher gesagt?«), geht die letzten Minuten vor dem Blackout wie eine Kurzgeschichte durch (»Erst war ich in der Küche, dann habe ich den Schrank geöffnet, dann hat das Handy geklingelt«), wartet ab oder erklärt die Sache für nicht relevant (»wird schon nicht so wichtig gewesen sein«).
Doch wenn Blackouts systematisch werden und wir immer weniger unterscheiden können, was wichtig war und was nicht, verliert auch unsere Fähigkeit, uns die eigene Geschichte zu erzählen, um unserem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, immer mehr an Bedeutung.
Weil unsere Bewusstseins-Störungen - denn um solche handelt es sich eigentlich - zuerst am Arbeitsplatz auftauchten, glaubten wir lange, sie seien darauf beschränkt, oder
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