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und man trotzdem noch weitere drei Stunden vor dem Schirm sitzen bleibt. Wenn das Hirn durch zunehmende Blackouts meldet, dass Multitasking nicht funktioniert, und die Arbeitswelt immer noch mehr Multitasking verordnet.
Pirolli hat im Jahre 2007 in einem Experiment mit einigen Studenten der Stanford-Universität die Strategien der Informa-tionsjagd analysiert. Konnten die Studenten bei der gesuchten Information anhand der Schlüsselbegriffe eine starke Witterung aufnehmen, gingen sie zielstrebig vor; war die Witterung schwach, weil die Schlüsselbegriffe fehlten, wanderten sie zunächst ziellos in der Informationsflut umher. In einem daraufhin erstellten mathematischen Modell stellte Pirolli fest, dass unsere Informations-Futtersuche ziemlich genau dem Verhalten dieses Tieres entspricht:
Das ist der Getreideplattkäfer, auch Oryzaephilus surinamensis, ein gut erforschter Vorratschädling, der besonders an Korn und Mandel geht und sich gut auf Verlockungen versteht. Wir Informations-Fresser werden von der Witterung der Infor-mations-Nahrung mathematisch angelockt, wie der männliche Getreideplattkäfer, der den Sexual-Duftstoff des Weibchens wittert. 103 Und ehe Sie jetzt aussteigen und die Verwandtschaft mit Käfern leugnen, sollten Sie wissen, dass Google die Strategien der Informations-Witterung von Oryzaephilus in seine Algorithmen einbauen wird. 104
Pirollis Erkenntnisse haben nicht nur Folgen für die Suche nach Informationen. Sie erklären auch unsere elementare, fast existenzielle Ungeduld, obwohl die Systeme heute doppelt so schnell sind wie noch vor drei Jahren.
Erwachsene reagieren panisch, wenn eine Website nicht erreichbar oder eine Nachricht auch nur Sekunden verspätet eintrifft, und sie legen großen Wert darauf, dass eine Googlesuche schneller ist als ein Augenblinzeln. Ihre Verhaltensweisen ähneln Tieren, die Angst haben, dass man ihnen die Nahrung wegnimmt, weshalb immer mehr User sich einen fortlaufenden Nahrungsstrom durch Nachrichten-Feeds und Ähnliches einrichten.
Jugendliche, die bei Studien experimentell beim Herunterladen von Musik-Dateien mit minimalen Verzögerungen konfrontiert wurden, in denen der Computer vorgab zu prüfen, ob die gewünschte Datei oder CD noch verfügbar sei, gerieten in eine physiologisch messbare Mini-Panik und suchten einen anderen »Nahrungsplatz«.
Ausbeuter und Entdecker
Man sagt, die wahren Autoren unserer Existenz sind heute nicht mehr Schriftsteller, sondern die Informatiker.
Unser Austausch zwischen uns und den Mikroprozessoren folgt einem Drehbuch, das wir nicht kennen und das uns doch immer enger zusammenschweißt, wobei vielleicht von Schweißen in diesem Zusammenhang nicht mehr die Rede sein kann. Wir werden in Fragen der Entscheidungsfindung, des Multitaskings und der Informationssuche neuronal mit dem Netz verbunden. 105 Peter Pirolli, einer der Autoren dieser neuen Art von »Literatur«, ist alles andere als ein Dunkelmann. Er ist ein liberaler Intellektueller, der sich sehr dafür engagiert, dass die digitalen Technologien auch den Armen zur Verfügung stehen. Er setzt sich für Medienkompetenz und Bildungsangebote für Unterprivilegierte ein und er handelt, wie viele, die aus dem Netz eine Rechenmaschine menschlichen Verhaltens machen: Er erkennt, dass die Informationsüberflutung gar keine andere Möglichkeit lässt, als dem Hirn Aufgaben abzunehmen, die es selbstständig nicht mehr leisten kann. Ich sehe in ihm einen der Autoren, die die Drehbücher für unser nach außen gewandertes Denken schreiben werden.
Wir werden immer mehr Schriftsteller unserer digitalen Existenz bekommen und viele von ihnen gar nicht als solche erkennen. Was unterdessen mit unserer Innenwelt geschieht, dafür fehlen uns im Augenblick womöglich noch die wirklichen Schriftsteller unserer Existenz.
Aber Franz Kafka ist der Schriftsteller, der aus literarischer Sicht das Ur-Programm all dieser kognitiven Veränderungen geschrieben hat.
Ich habe die geistige Transformation, die ich empfinde, zu Beginn dieses Buches mit dem der wundersamen Verwandlung des Menschen Gregor Samsa in einen Käfer beschrieben. Kafka hat eine neue Sichtweise auf die Welt erschaffen, eine, die - wie man bis heute bewundernd feststellen kann - tatsächlich ohne irgendwelche Vorbilder war:
»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den
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