Pechvogel: Roman (German Edition)
halten an einer roten Ampel oben auf dem Nob Hill zwischen dem Hotel Fairmont und dem Mark-Hopkins-Hotel. Alex dreht sich in seinem Sitz zu mir um und schaut mich an. »Stört es Sie denn nicht, was mit diesen Tieren geschieht? Stört es Sie nicht, was Sie in Ihren Körper hineinstopfen? Stört es Sie nicht, dass kleine Mädchen schon vor der dritten Klasse in die Pubertät kommen, weil sie durch Milch und Rindfleisch so viele Hormone und Steroide zu sich nehmen?«
»Stört es Sie nicht, dass Ihre Eltern ein Weichei großgezogen haben?«
Er dreht sich wieder um und wirft mir über den Rückspiegel einen langen, kalten Blick zu. Dann springt die Ampel auf Grün. Ich wünschte, er würde auf die Straße achten.
»An der Chestnut Street gibt es einen Starbucks und direkt gegenüber einen All-Star Donuts«, sage ich. »Die beziehen ihre Milch vermutlich von einer Milchfarm, aber da kann ich den Einkauf in einem Abwasch erledigen, bevor wir zu meinem Apartment fahren.«
»Gut. Ich tue alles, was Sie wünschen.«
Das bezweifle ich. Aber immerhin kann ich meinen nicht veganen Apfelkrapfen aus Tierabfallprodukten in Ruhe essen.
Ein paar Minuten fahren wir schweigend weiter auf der California durch Nob Hill und vorbei am Huntington Park. Hier habe ich Tommy zum ersten Mal getroffen, und so schließt sich der Kreis. Dass es nur knappe vier Stunden her ist, dass ich hier in diesem Park auf einer Bank gesessen habe, kann ich kaum glauben. Es fühlt sich eher an wie vier Tage.
Als wir an der Grace Cathedral vorbeikommen, denke ich über die Fahrt mit Barry Manilow in der Limousine heute Morgen nach, was mich an das versaute Geschäft mit den Bullen über die Lieferung des Pechs an Tommy Wong denken lässt, wodurch ich an Mandy denken muss. Und ich frage mich, ob ich sie in die ganze Sache einweihen sollte.
Es gehört zu meinen Lebensgewohnheiten dazu, dass ich eigentlich nur auf mich selbst aufpassen muss. Als Mandy sich entschied, ihre Fähigkeiten aufzugeben und so zu tun, als wäre sie ein ganz normaler Mensch mit einem ganz normalen Leben, hielt ich es für das Beste, sie fortan auch genauso zu behandeln. Darauf, mich um jemand anderen kümmern zu müssen, konnte ich ebenso gut verzichten wie auf anderer Leute Probleme, die doch nur meinem Glück im Wege stehen würden. Wenn Mandy ein Problem hatte, konnte sich schließlich ihr Ehemann – Bill oder Ted oder wie er auch immer heißen mag – darum kümmern. Nicht ich.
Um es mit Paul Simon zu sagen:
I am a rock. I am an island.
Ich bin ein Fels. Ich bin eine Insel.
Leider aber kann ich dieses spezielle Mandy-Problem nicht ignorieren, denn ich bin dafür verantwortlich. Oder zumindest an seiner Entstehung beteiligt. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin: Nach dem Fiasko in Tucson, nachdem ich so dumm war und alles verloren habe, hätte ich, als ich von dort weglief, überall hingehen können – die ganze Welt stand mir offen. Ich hätte in Utah oder New Mexico neu anfangen können. Hätte mich in Tampa oder Charleston niederlassen können. Hätte nach Portland oder Seattle ziehen können.
Stattdessen habe ich mir San Francisco ausgesucht. Wohl wissend, dass Mandy sich genau hier vor fast zehn Jahren ein neues Leben aufgebaut hatte – und dass sie ihren Ehemann und ihre zwei Töchter nicht dem Leben aussetzen wollte, das sie hinter sich gelassen hatte.
Als wir nach Norden in die Franklin Street einbiegen und in Richtung Marina fahren, frage ich mich im Stillen, was ich hier eigentlich zu suchen habe. Nicht jetzt gerade auf der Rückbank einer Lincoln-Limousine – wobei das natürlich in der aktuellen Situation auch alles andere als irrelevant ist –, sondern in dieser Stadt generell. Nachdem die Sache damals in die Hose gegangen war, hat mich irgendwas nach Kalifornien gezogen.
Vielleicht brauche ich meine Schwester doch mehr, als ich mir eingestehen möchte. Vielleicht möchte ich mich im Grunde mit ihr versöhnen, weiß aber nicht, wie ich es anstellen soll. Vielleicht hat mein eigener Weg mich derart mit Beschlag belegt, dass mir darüber entgangen ist, dass ich auf diesem Weg etwas sehr Wichtiges verloren habe.
Im Allgemeinen neigen Glücksdiebe nicht zur Selbstreflektion. Die ist schlecht fürs Geschäft. Wenn du dir die Zeit nimmst, innezuhalten und darüber nachzugrübeln, welche Auswirkungen du auf das Leben all jener hast, die du bestiehlst, merkst du erst, was du da eigentlich machst. Du hinterfragst die Entscheidungen, die du getroffen
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