Pechvogel: Roman (German Edition)
hast, und die fragwürdige Ethik dahinter. Auch wenn du mit dieser Fähigkeit geboren wurdest: Du hast immer eine Wahl. Es ist eine Frage der Selbstbeherrschung – wie bei meiner Mutter und Mandy.
Oder anders gesagt: Nur weil du die Macht hast, etwas zu tun, musst du sie nicht zwingend einsetzen.
Als wir über die Franklin Street Richtung San Francisco Bay fahren und uns die Wärme der Nachmittagssonne einhüllt, während sich über uns der klare blaue Himmel öffnet, denke ich an Mandy. Ich frage mich, ob es bei meinem Umzug hierher darum ging, zu dem Leben zurückzukehren, das ich mir aufgebaut hatte, oder ob ich zurück zu etwas ganz anderem wollte.
Kapitel 22
N achdem ich mir einen Cappuccino und einen Apfelkrapfen besorgt habe und danach zu Hause in meinen grauen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte geschlüpft bin, beschließe ich, meine Liste von unten abzuarbeiten. Das bedeutet, ich beginne mit den Opfern mit Kleinem Glück. Bei so einem Massendiebstahl von Glück ist das die beste Vorgehensweise. Du fängst mit dem Kleinen Glück an und arbeitest dich dann nach oben vor. Ansonsten hast du am Ende einen üblen Nachgeschmack im Mund. Als hättest du die ganze Zeit über Guinness getrunken und die Nacht am Ende mit einem Billigbier wie Pabst Blue Ribbon beschlossen.
Aber bevor ich mit dem Wildern beginne, nenne ich Alex noch eine andere Adresse. Eine, die nicht auf der Liste steht und bei der ich bisher nur ein einziges Mal war.
Ich drücke auf die Klingel, warte auf der vorderen Veranda und hoffe, dass es heute besser läuft als beim letzten Mal. Dann öffnet sich die Tür.
»Was machst du hier?«, fragt Mandy. Kein Lächeln. Keine Wärme. Kein Enthusiasmus. Nur ein argwöhnischer und kalter Blick.
So viel zur glücklichen Familienzusammenführung.
»Begrüßt man denn so seinen kleinen Bruder?«
Sie steht mit verschränkten Armen in der Tür, hat die Lippen gekräuselt und bittet mich nicht herein. In etwa das hatte ich erwartet.
»Kann ich einen Moment reinkommen?«
Mandy sieht mich so lange an, bis ich mich frage, ob sie mich überhaupt gehört hat. Oder ob sie über meine Worte nachdenkt. Oder ob sie in eine katatonische Starre verfallen ist. Dann zuckt sie die Schultern, schüttelt den Kopf, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort ins Haus.
»Ich nehme das mal als ein Ja«, sage ich, schließe die Tür hinter mir und folge ihr durch den Flur. Überall an den Wänden hängen gerahmte Fotos von Mandy, Ted und ihren Töchtern. Sie lächeln, sind glücklich und im Urlaub. Führen ein normales Leben. Machen normale Sachen. An den Wänden meines Apartments gibt es keine Fotos. Gäbe es welche, dann zeigten sie mich beim Stehlen oder Verkaufen von Glück oder mit einem Katheter im Penis.
Nicht gerade die Art von Momenten, die man für die Ewigkeit festhalten will.
Auf einem Familienfoto in Disneyland grinsen alle so breit, als wären sie direkt der Werbung entsprungen. Kurz halte ich inne und spüre ein schmerzhaftes Bedauern über all die Dinge, die ich verpasst habe. Dann gehe ich Mandy hinterher in die Küche, wo sie sich gegen den Tresen an der Spüle lehnt, erneut die Arme überkreuzt und mich so intensiv anstarrt, als wolle sie mir mit ihrem Blick die Haut von den Knochen schälen.
»Also, was machst du hier?« Sie erwähnt nicht mal, wie gut mir der Anzug steht.
»Kann ein kleiner Bruder nicht mal bei seiner großen Schwester vorbeischauen, ohne dass ihm gleich Hintergedanken unterstellt werden?«
»Ich habe gar nicht von Hintergedanken gesprochen.«
»Nein. Aber dein Tonfall impliziert das.«
»Da füllt dein schlechtes Gewissen wohl die Lücken aus.«
»Oder du ziehst einfach nur voreilige Schlüsse.«
»Wenn ich voreilige Schlüsse ziehen würde«, meint sie, »läge das nur daran, dass ich weiß, worauf die ganze Sache hinausläuft. Und daran, dass ich keine Lust habe, auf dem Weg dorthin meine Zeit zu verschwenden.«
Mein Vater hat das ständig zu mir gesagt.
»Weißt du was?«, sage ich. »Ich glaube, das ist das längste Gespräch, das wir in den letzten zehn Jahren geführt haben.«
»Was vielleicht daran liegt, dass wir nichts zu besprechen hatten.«
»Also dann: Besprechen wir etwas.« Ich setze mich auf einen Stuhl am Küchentisch und warte darauf, dass sie mir Gesellschaft leistet. Dann schiebe ich ihr sogar mit dem Fuß einen Stuhl hin, doch Mandy bleibt an der Spüle stehen.
»Worüber willst du reden?«
»Wo sind die Mädchen? Stephanie
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