Pechvogel: Roman (German Edition)
mehrere Tuesdays anzutreten. Was heißt, dass du manchmal auch Dinge tun musst, zu denen du lieber nicht stehen möchtest.
Wie deinen eigenen Urin zu trinken.
Wenn du keine Zeit zum ordentlichen Extrahieren des Glücks oder keine Extraktionsausrüstung zur Hand hast, das Glück aber trotzdem nicht verschwenden willst, bleibt nur eine Möglichkeit: Du musst es trinken. Wenn es nicht dein eigenes ist, will es nicht in deinem Körper bleiben und wird letzten Endes sowieso entweichen. Aber die positiven Effekte des Glücks lassen sich verlängern, wenn du es ausscheidest und wieder zu dir nimmst.
Wenn du es nicht direkt oder mit Wasser und Zucker vermischt trinken willst, kannst du es durch einen Kohlenstoffwasserfilter laufen lassen. Das verbessert Säure, Farbe und sogar den Geschmack. Nur stehen lassen sollte man es nicht, denn sonst explodiert die Anzahl der Keime darin.
Einige Glücksdiebe frönen der Urophagie und trinken regelmäßig Urin. Sie behaupten, dass sie dadurch nicht nur den Glücksrausch verlängern, sondern auch ihre eigene Fähigkeit des Glückswilderns verstärken. Für den zweiten Punkt gibt es zwar keinerlei Beweise, aber die Hoffnung auf Verlängerung der positiven Effekte gestohlenen Glücks durch Urinverzehr ist nicht völlig unbegründet.
Ein Stamm in Sibirien, der psychoaktive Pilze für zeremonielle Zwecke einsetzt, trinkt den Urin und teilt ihn auch auf. Da der Urin die berauschende Wirkung der Pilze enthält, trinken einige Stammesmitglieder, die sich keine Pilze leisten können, den Urin anderer, die Pilze zu sich genommen haben, während andere Stammesmitglieder ihren eigenen Urin trinken, um die Erfahrung zu verlängern.
Am Anfang erst mal eine Runde pisswarmen Urin rumgehen lassen – mehr braucht es nicht, um eine Party auf Touren zu bringen.
Auch wenn die meisten Kulturen derlei nicht regelmäßig praktizieren, wurde Urin im Laufe der Jahrhunderte doch immer wieder für unterschiedlichste Zwecke eingesetzt.
In China schreibt man dem Urin junger Knaben eine heilsame Wirkung zu.
Im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts badeten Frauen in Urin, um ihre Haut zu verschönern.
Im alten Rom hellte man sich mit Urin die Zähne auf.
Um nur einige Beispiele zu nennen.
Ganz zu schweigen von den Leuten, die Urin zum sexuellen Vergnügen trinken oder denen einer abgeht, wenn man sie anpisst.
Und solange man seinen Urin nicht trinkt, wenn man dehydriert ist, und ihn ausreichend mit Wasser verdünnt, gibt es bei der Sache auch keine besonderen Risiken – von bakteriellen Infektionen der Harnröhre und dem hohen Salzgehalt mal abgesehen. Und Glücksdiebe, die ihren Urin nicht mit Wasser verdünnen, leiden manchmal aufgrund des hohen Säuregehalts unter einem Rückgang des Zahnfleischs.
Bisher musste ich noch nie auf dieses Mittel zurückgreifen, aber ich habe einfach nicht die Zeit, um das Glück vernünftig zu extrahieren und in eine verzehrbare Form zu bringen. Und wie man so sagt: In der Not frisst der Teufel Fliegen – und der Wilderer trinkt seinen Urin.
Also dann: Auf den Mund und rein damit …
Schmeckt nicht so schlimm, wie man denken würde. Etwas würzig. Und ich bedauere, dass ich gestern Abend gedünsteten Spargel gegessen habe. Aber ich tue so, als ob es richtig schlechte Limonade wäre, und das hilft, den Nachgeschmack zu rechtfertigen.
Jetzt brauche ich nur noch etwas für frischen Atem.
Als ich zum Taxi zurückkomme, ist es Viertel vor sechs. Mit etwas Glück schaffe ich es noch zur Wells Fargo an der Ecke Grant Avenue, bevor die Bank schließt, was hoffentlich dafür sorgt, dass mich Tommy in Ruhe lässt, während ich mir überlege, wie ich ihn mit dem Pech infizieren kann, das ich in Tenderloin abholen soll.
Und ich dachte bislang, es wäre das Höchstmaß an Herausforderung, mit mehreren Baristas parallel zu schlafen.
Wir rasen über die Lombard Street. Ich sitze mit einer Tasche voller Glück auf der Rückbank und denke über Tuesdays Anruf nach. Und darüber, dass das Roller-Mädchen ins O’Reilly’s gegangen ist. Ich frage mich, ob es eine Verbindung zwischen den beiden gibt. Ob sie einander kennen. Ich lasse die Ereignisse des Tages Revue passieren und versuche, ausnahmsweise Detektiv zu spielen. Einen Hinweis zu entdecken. Etwas zu bemerken, das ich übersehen habe.
Neben der Schärfung der körperlichen Sinne sorgt Glück auch für Momente allwissender Klarheit. Je reiner das Glück ist, desto besser ist die Wirkung: Man gewinnt eine fast
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