Pechvogel: Roman (German Edition)
Schnurrbart versucht mich zum Eintreten zu bewegen, damit ich mir die Ware anschauen kann. Ich muss gestehen, dass ein Lapdance im Glücksrausch eine verführerische Vorstellung ist. Wer noch nie während einer Fahrt im Softland-Express seinen fleischlichen Gelüsten nachgegeben hat, der weiß nicht, was körperliches Vergnügen ist. Ein Grund mehr, warum so viele Wilderer von ihrem eigenen Produkt abhängig werden: Es ist, als ob man die Vorzüge der ersten Klasse kennenlernt und feststellt, dass man nie wieder in der zweiten fahren will.
Und so stehe ich jetzt also vor einem Stripklub, der nach dem Paradies benannt ist, aus dem die Menschheit angeblich hinausgeworfen wurde, weil sie einen Apfel vom Baum der Erkenntnis verspeist hat, und werde von den Früchten menschlichen Fleisches in Versuchung geführt. Dass ich genau hier abgesetzt worden bin, kommt mir plötzlich ziemlich symbolisch vor.
Meiner Meinung nach ist die christliche Mythologie selbst genau das: Mythen. Geschichten. Fabeln. Parabeln und Metaphern, die uns lehren sollen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Und die Lehre der Erbsünde ist: Wissen ist ein Fluch.
Mit diesem ersten Apfel nahmen wir die Nährstoffe dieses Wissens in uns auf, und sie wurden ein Teil von uns. Das Wissen darüber, zu was wir fähig sind. Das Gute und das Böse. Und als wir das einmal verstanden hatten, konnten wir es nicht mehr ungeschehen machen. Wir müssen mit den Konsequenzen unseres Handelns leben. Es führt kein Weg zurück.
Das kommt mir ziemlich bekannt vor.
Ich persönlich habe mich nie einer Religion verbunden gefühlt. Wenn du durch deine besonderen Fähigkeiten das Glück beeinflussen und nur durch eine Berührung das Leben jedes Menschen verändern kannst, beginnst du, statt an höhere Wesen an dich selbst zu glauben. Das ist einfach Teil des Geschäfts. Man kann nicht das tun, was ich tue, und sich für normal halten. Ich existiere in einem anderen Universum. Die Regeln der anderen haben für mich keine Gültigkeit.
Was auch erklärt, warum ich so oft in Schwierigkeiten gerate.
Niemand stellt sich gern seinen eigenen Schwächen – erst recht nicht ich. Ich hasse es, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Es ist viel leichter, so zu tun, als hätte mein Handeln weder Folgen noch Nachwirkungen.
Und genau so bin ich ja überhaupt in diesen ganzen Schlamassel hineingeschlittert.
Der späte Nachmittag wird zum frühen Abend, und ich habe keine Zeit mehr für einen Lapdance oder für die philosophische Auseinandersetzung mit den moralischen Implikationen meines Lebenswandels. Ich brauche ein Taxi nach Tenderloin, um das Pech dort abzuholen und um zu verhindern, dass meine Schwester ein Kollateralschaden meines Hochmuts und meiner Begierden wird.
Ich habe einen vollen Terminkalender.
Und so winke ich mir ein Taxi heran, das in Richtung San Francisco Bay fährt, und steige hinten ein.
»Wohin?«, will der Fahrer wissen.
Ich zücke die Karte, die Barry Manilow mir gegeben hat, aber bevor ich die Adresse an der O’Farrell Street aufsuchen kann, muss ich herausfinden, ob die Frau, die ich vor wenigen Minuten gesehen habe, wirklich das Roller-Mädchen war. Denn in dem Fall muss sie mir zuerst ein paar Fragen beantworten.
»Shanghai Kelly’s an der Ecke Broadway und Polk Street«, gebe ich zurück. »Und wenn Sie einen Zahn zulegen und die grüne Ampel da noch erwischen, gibt es hundert Dollar extra für Sie.«
Der Fahrer tritt aufs Gas, macht einen schnellen U-Turn und rauscht über die Ampel, bevor sie rot wird. Ich ziehe einen Hunderter aus meinem Geldbeutel und werfe den Schein auf den Beifahrersitz.
»Danke«, sage ich. »Übrigens: Sie sind nicht Veganer, oder?«
Kapitel 26
E ine weitere Eigenschaft von Großem Glück ist, dass man öfter auf grüne als auf rote Ampeln stößt. Und so komme ich rechtzeitig bei Shanghai Kelly’s an, um zu sehen, dass diejenige, die ich für das Roller-Mädchen gehalten habe, tatsächlich das Roller-Mädchen ist – das gerade auf seinen Roller steigt und in die Richtung davonbraust, aus der ich gerade gekommen bin.
»Folgen Sie dem Roller«, weise ich den Taxifahrer an.
»Das dürfen wir eigentlich nicht.«
Ich werfe einen weiteren Hunderter auf den Beifahrersitz. »Und jetzt?«
Nachdem er sich das Geld geschnappt hat, macht der Taxifahrer einen weiteren seiner illegalen U-Turns an einer gelben Ampel und fährt zurück nach Chinatown. Während wir dem Roller-Mädchen über den Broadway in Richtung
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