Pechvogel: Roman (German Edition)
gottgleiche Einsicht in Situationen, die ansonsten verwirrend und verworren wären. Einzelmomente und Umstände, die zunächst nicht miteinander in Verbindung zu stehen schienen, werden plötzlich zu einer Folge von Ereignissen, die zum Jetzt führen mussten.
Allerdings ist die Wirkung von Glück, das man ein zweites Mal in sich aufnimmt, nicht vorhersehbar.
Jetzt erlebe ich keinen Aha-Effekt. Ich habe keine Offenbarungen.
Vielleicht gibt es also wirklich keine Verbindungslinien. Vielleicht kennen sie sich nicht. Vielleicht lenken mich die Umstände von etwas anderem ab, auf das ich mich konzentrieren sollte. Auf einen geräucherten Hering. Oder steht »Roter Hering« für eine falsche Fährte?
Redewendungen waren noch nie mein Ding.
Vermutlich ist es tatsächlich nur ein Zufall, dass sie beide im O’Reilly’s sind. Allerdings habe ich im Laufe der Jahre eine Sache gelernt: Es gibt keine Zufälle. Nein, halt, streichen wir das. Ich habe zwei Dinge gelernt:
Erstens gibt es keine Zufälle.
Zweitens lassen sich viele Frauen gern mal übers Knie legen.
Da ich nun gerade darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich noch ein oder zwei andere Dinge gelernt habe. Aber mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war.
Ein Teil von mir wünscht sich, ich wäre im O’Reilly’s geblieben. Dann hätte ich warten können, bis Tuesday auftaucht, und hätte sehen können, ob sie sich mit dem Roller-Mädchen trifft. Und das meine ich nicht in Bezug auf irgendwelche Lesbenporno-Phantasien – wobei ich nichts dagegen hätte, bei derlei zuzuschauen. Ich dachte eher daran, dem Gespräch der beiden zu lauschen. Was weniger unterhaltsam, aber in Anbetracht der aktuellen Lage wesentlich relevanter wäre.
Auf der anderen Seite: Wenn ich dortgeblieben wäre, hätte ich Tommys Zorn auf mich gezogen. Und ich konnte nicht riskieren, dass er noch wütender wird, als er ohnehin schon ist. Außerdem musste ich dringend pinkeln. Und ich zweifle daran, dass zwischen den beiden Frauen was gelaufen ist. Deshalb hoffe ich einfach, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Worauf ich angesichts der jüngsten Ereignisse nicht gerade Wetten abschließen würde.
Noch ein weiterer Hunderter extra, und der Taxifahrer fährt mich in Rekordzeit zur Wells Fargo. An der Straße gibt es keinen Parkplatz. Also gebe ich ihm etwas Zeit für eine Tasse Kaffee, einen Burger oder einen Quickie und sage ihm, dass er in fünf Minuten zurückkommen soll. Danach gehe ich in die Bank, um die Flaschen mit dem Glück zu hinterlegen.
Als ich eintrete, kommt ein großer männlicher Angestellter auf mich zu: kanariengelbes Hemd, schwarze Hose und ein dazu passender Schlips. Er sieht aus wie eine ausgehungerte Hummel – und wenn man seinem Namensschild Glauben schenken darf, heißt er Oscar.
»Willkommen bei der Wells Fargo«, begrüßt er mich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich muss zu meinem Schließfach.«
Er zeigt auf die Schlange, in der fünf Personen vor zwei offenen Schaltern warten. »Wenn Sie bitte dort drüben warten würden? Sobald jemand verfügbar ist, kümmert sich ein Mitarbeiter um Sie.«
Ich bin mit einer Femme fatale verabredet und habe daher keine Lust zu warten.
»Hören Sie zu, Oscar«, sage ich und hoffe, dass Donna Bakers Glück und Tommy Wongs Einfluss auch hier etwas bewegen können. »Ich soll hier jemanden treffen und bin etwas in Eile. Ich heiße Nick Monday, und ich …«
»Oh, natürlich. Hier entlang, Mr. Monday.«
Das war leichter, als ich dachte.
Oscar führt mich zu den Schließfächern im hinteren Teil, wir müssen uns noch nicht einmal eintragen. Er nimmt meinen Schlüssel, öffnet eines der großen Fächer in der unteren Reihe, zieht einen Kasten heraus und führt mich in eine Kabine. Dann steht er draußen vor der Tür Wache, während ich Plastikflaschen mit flüssigem Glück in den Kasten stelle. Keine sechzig Sekunden später bin ich fertig und verlasse die Bank mit meinem leeren Rucksack, während vier der fünf Leute von vorhin immer noch in der Schlange stehen und mich zornig anstarren.
Anscheinend hat es auch seine Vorzüge, für die chinesische Mafia zu arbeiten.
Als ich wieder rauskomme, ist mein nicht-veganer Fahrer noch nicht zurück. Also warte ich an der Ecke Grant Avenue und Market Street auf ihn und hoffe, dass er bald auftaucht, damit ich am Ende nicht meine Verabredung zum Drink mit Tuesday und ihren Brüsten verpasse.
Manchmal kann ich meine Fixierung einfach nicht
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