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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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ohne jede Gnade. Sie hatte mehr Kraft als jeder Lkw-Fahrer. Ich lief eine Zeit lang in Industria umher und streckte mich dann im La-Faternidad-Park auf einer Bank aus. Die Leute glaubten, ich sei besoffen, und durchsuchten meine Taschen nach Geld. Alle halbe Stunde kam ein anderer, aber ich hatte mein Geld bei Ana María in Büchern versteckt.
    Als es hell wurde, ging ich zur Ambulanz ins Krankenhaus. Dort verarztete man mich ein wenig. Ich hatte keinen Pfennig bei mir, und es war viel zu früh, um meine Habseligkeiten von Ana María abzuholen. Besser, ich wartete ein paar Tage. Ich war jetzt zerschlagen, schmutzig, unrasiert und verzweifelt genug, um zu betteln. Ich begab mich zur Kirche La Caridad in Salud y Campanario, setzte mich auf die Stufen vor dem Portal, schaute hungrig und verlassen drein und streckte meine Hand aus. Das brachte mir wenig ein. Alle Almosen gingen an eine Alte, die zuerst da gewesen war. Sie hielt ein Bild des heiligen Lazarus hoch und ein Pappschild, auf dem stand, dass sie ein Gelübde erfüllte. Als die Kirche am Abend geschlossen wurde, hatte ich nur ein paar Münzen eingenommen und war hungrig wie ein Wolf. Es war vierundzwanzig Stunden her, seit ich zuletzt etwas gegessen hatte.
    Ich bettelte an mehreren Haustüren um Essen, aber die Hungersnot war überall groß. Niemand hatte 1994 in Havanna genug zu essen. Eine Alte gab mir ein paar Stücke Yucca und sah mir in die Augen.
    »Was machst du in diesem Zustand? Du bist ein Sohn von Changó.«
    »Und von Ochún.«
    »Ja, aber Changó ist dein Vater und Ochún deine Mutter. Bete zu ihnen, mein Sohn, und bitte sie um Hilfe. Sie werden dich nicht im Stich lassen.«
    »Danke, Mütterchen.«
    So verbrachte ich die nächsten Tage, bis die Schmerzen nachließen. Ich fand auf der Straße einen Eisenstab, steckte ihn in die Hose, verborgen unter dem Hemd, und begab mich zum Haus von Ana María. Es war Vormittag, und ich hatte mir ausgerechnet, dass Beatriz bei der Arbeit sein musste. Ich klopfte an, und Ana María öffnete. Sie wollte mir die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlagen, aber ich blockierte sie mit meinem Eisenstab, stieß Ana María zur Seite und trat ein. Sie schrie und rannte zum Spülbecken, um ein Messer zu holen.
    »Ana María, beruhige dich. Ich werde dir nichts tun. Ich will nur etwas holen, was ich hier zurückgelassen haben, dann gehe ich sofort wieder.«
    »Du hast hier nichts zurückgelassen. Mach, dass du rauskommst. Ihr Männer seid alle gleich! Wäre Beatriz jetzt hier, würde sie dich in Stücke reißen, du Scheißkerl. Raus jetzt!« Ich hatte das Buch bereits in der Hand, schlug es auf, und meine Geldscheine glänzten mir entgegen. Ich steckte sie in die Tasche und ging. Sie wurde plötzlich ruhiger, und ich sah zu, dass ich wegkam. Wenn sie auf die Idee kommen sollte, zu schreien, man solle mich halten, ich hätte ihr Geld gestohlen, wäre ich in den Arsch gekniffen. Als erstes kaufte ich mir eine Flasche Rum. Es war lange her, seit ich zuletzt einen Schluck getrunken hatte. Ich suchte einen Bekannten auf und kaufte ihm seinen Rum ab. Er war geschmuggelt und teuer, aber ausgezeichnet. Ich machte die Flasche auf, und wir tranken ein Gläschen. Er fragte mich, was mir denn passiert sei, und ich erzählte ihm irgendwas. Nicht viel.
    »Warum suchst du dir nicht einen Alten, den du betreuen kannst? Gleich um die Ecke wohnt ein kranker, alter Mann ganz allein. Er ist ungefähr achtzig und ein echter Stinkstiefel, aber mit etwas Geduld machst du ihn dir gefügig. Seine Frau ist vor ein paar Monaten gestorben, und er kommt auch bald um vor Hunger und Dreck. Schmeichele dich ein, zieh zu ihm, nimm dich seiner an, wasch ihn und bring ihm ein bisschen was zu essen, und wenn er stirbt, behältst du das Haus. Das ist besser als die Straße.« Wir leerten die Flasche. Ich kaufte noch eine und suchte dann den alten Mann auf. Er war ein harter Bursche, ein sehr alter schwarzer Mann, erledigt, aber keineswegs zerstört. Er wohnte San Lázaro 558 und verbrachte den lieben langen Tag still sitzend in seinem Rollstuhl an der Tür, betrachtete den Verkehr, atmete die Abgase ein und verkaufte seine Zigaretten etwas billiger als im Laden. Ich kaufte ihm eine Schachtel ab, machte sie auf und bot ihm eine an, aber er lehnte ab. Ich bot ihm einen Schluck Rum an, aber auch den lehnte er ab. Ich war guter Dinge. Mit etwas Geld in der Tasche, einer halben Flasche Rum und einer Schachtel Zigaretten sah die Welt gleich ganz anders aus. Das

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