Pedro Juan Gutiérrez
oder noch weit entfernt war, und es war mir auch egal.
Der Typ wurde ganz ernst und ging weiter. Inzwischen regnete es Bindfäden. Auf dem ganzen Malecón war keine Menschenseele. Es war fünf Uhr nachmittags, aber der bedeckte Himmel wurde schon dunkel. Das Licht war grau, kalt und feucht, ziemlich selten auf dieser Insel mit ihrem sonst so unbarmherzig stechenden Licht. Jetzt wurde es gezähmt von einem Nebel aus Regen, Salz und Jod. Ich flüchtete mich hinter eine Säule, um den Schauer abzuwarten. Anscheinend musste ich mich mit diesen zeitweiligen Anfällen von Melancholie und Traurigkeit abfinden. Es war, als lebte ich mit einer alten Schusswunde, die bei Feuchtigkeit schmerzt. Vielleicht habe ich ja meine Gründe für diese Schwermut. Aber das darf nicht sein. Das Leben kann ein Fest sein oder eine Totenwache. Das muss man selbst entscheiden. Darum ist dieser Trübsinn in meinem Leben auch echt Scheiße, und ich will ihn verscheuchen. So verbringe ich meine ganze Zeit damit, Trübsinn, Schwermut und all so was zu verscheuchen.
Als es etwas aufklarte, ging ich die Campanario hoch. An der nächsten Straßenecke war ein Menschenauflauf um zwei Polizisten herum, die einen etwa sechzehnjährigen Mulatten festhielten. Sie hatten ihm Handschellen angelegt, er stand mit dem Rücken zur Wand. Alle sahen ihn an. Man wartete auf einen Streifenwagen, um ihn auf die Wache zu bringen. Er hatte versucht, ein Fahrrad zu klauen. Der Junge schämte sich und sah zu Boden. Das Kinn lag ihm auf der Brust. Ich blieb einen Moment stehen und betrachtete ihn. Plötzlich gaben seine Knie nach, und er sank zu Boden. Er hatte so große Angst, dass er sich nicht auf den Beinen zu halten vermochte. Die Leute um ihn herum murmelten immer dasselbe.
»So, so, jetzt tut's dir wohl Leid? Daran hättest du früher denken sollen, du Dreckskerl.« Ich ging weiter.
Ich entfernte mich ein paar Häuserblocks vom Malecón und dem Wind. Im Park San Rafael y Galiano war es schon fast dunkel und die gewohnheitsmäßige Fauna schon versammelt. Ich setzte mich auf eine Bank. Ein Stück weiter saß eine sehr magere, äußerst fröhliche Frau, die sich mit einer anderen unterhielt.
»Als ich den ersten Vorgeschmack von ihm hatte, sagte ich mir: ›Ayayay, ich heirate einen Deckhengst... ja, ja, er hat ihn mir genau richtig reingesteckt. Vier Kinder habe ich von ihm, eins nach dem anderen - wie am Schnürchen!‹ Dann war es mir genug, und ich ließ mir ein Pessar einsetzen und sagte zu ihm: kein einziges mehr! Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir jetzt zwölf oder zwanzig Burschen zu Hause sitzen, ha, ha, ha... ein richtiger Stier, der Kerl.« Dann kam ein Junge zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr, und sie sprang auf und stürmte davon. In höchster Eile. Sie verabschiedete sich nicht einmal von ihrer Freundin. Die Hast der Straße. Wenn du nicht schnell machst, kommt dir ein anderer zuvor.
Heute will ich niemandem zuvorkommen. Ich habe zwanzig Dollar in der Tasche, und das ist ein Vermögen. Ich überlegte, ob ich die Geschichte von Rogelio überarbeiten sollte, die begann: »Auf das Dach wird nicht mehr geschissen, verdammte Scheiße!« In Cádiz wollte man sie nicht veröffentlichen, weil im ersten Satz Scheiße stand (was ich nicht verstehe, schließlich ist Don Quijotte sozusagen ein Katalog solcher Wörter. Na ja, vielleicht ist Don Quijotte kein so gutes Beispiel. Immerhin starb Cervantes in völliger Armut). Man sagte mir, das sei zu stark. Ha! Sie haben keine Ahnung, was stark ist. Ich muss die Geschichte umschreiben, aber die verdammte Scheiße bleibt genau an ihrer Stelle. Sie ist unverrückbar.
Ein sehr alter, schmutziger Schwarzer setzte sich neben mich und wollte sich unterhalten. Er erzählte mir, er sei Kunstläufer und Seemann. Er hatte alle Kontinente bereist und war im Hafen mit seinen Rollschuhen von Bord gegangen. Sogar in New York war er dreimal aufgetreten. Er hob sein Hemd und zeigte mir einige Ketten. Alles Mögliche war um seine Hüfte herum gekettet: seine Brieftasche, ein riesiges Messer, Nylontaschen mit seinen Papieren und ein Zigarettenetui aus Aluminium. Das hatte er von einem Griechen an Bord der Caiman Island gelernt. Ich hörte ihm ein Weilchen zu, aber dann reichte es mir. So nett ich konnte, verabschiedete ich mich und setzte mich auf eine andere Bank. Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden, und ich wollte niemanden um mich haben. Wenn man mir meine zwanzig Dollar klaute, war ich am Arsch.
Durch den
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