Pedro Juan Gutiérrez
ordentlich, diszipliniert, ernsthaft und hingebungsvoll.
Manchmal aber fahre ich doch hin und bete ein wenig. Und wenn ich wieder herauskomme, sind da all die Typen von der Leprastation und vom Aids-Sanatorium, das sich unter den Mango- und Avocadobäumen versteckt. Ich weiß nicht, warum ich das alles erzähle. Vielleicht, weil ich ein bisschen melancholisch werde, wenn ich an das Schicksal von Jose Montalvo in San Antonio, Texas, denke. Sein letzter Brief ist von 1991. Er hatte schon Krebs und wurde homöopathisch behandelt. Die Chemotherapie hatte bei ihm nicht angeschla-gen. Er schrieb mir sehr innig: Er hielt seinen Lebensmut aufrecht, indem er sich im Sozialdienst um die Obdachlosen von Aztlán kümmerte und Gedichte schrieb und das heruntergekommene Haus renovierte, das er gekauft hatte, und sich um seinen dreijährigen Sohn kümmerte.
»Jedem Äffchen schlägt einmal die Stunde; du wirst deine Geschichten schon noch veröffentlichen. Lass dich auch weiter nicht unterkriegen«, hatte er geschrieben. Vor drei Jahren. Ich weiß nicht, ob er inzwischen gestorben ist. Ich war verwirrt und erschrocken und kümmerte mich nicht weiter um Montalvo und seinen heimtückischen Krebs. Er hatte sich von mir verabschiedet, und ich hatte ihm nie Lebewohl gesagt.
Heute las ich noch einmal seine Briefe und Bücher. So sind die Dinge, wie ein Pendel, hin und her. Manchmal lese ich Papiere aus vergangenen Jahren und habe das Gefühl, dass die Zeit in mir Widerhall findet: Ich bin einsamer geworden. Nach und nach werden wir alle einsamer. Auf der Strecke bleiben all die Frauen, die ich geliebt habe, die Orte, an denen ich glücklich war. Die Kinder gehen ihrer Wege. Alle Freunde. Alles, was ich je hatte und verlor. Alles, was ich halten wollte, stattdessen aber über Bord warf. Und ich wundere mich, dass ich schreibe, als sei ich schon am Ende angekommen. Und Gott hilft mir nicht, meinen Geist völlig klar zu bekommen und alles so hinzunehmen, wie es ist.
Ich, der Scheißeaufwühler
»Gordon« durchquerte langsam die Karibik. Von Südosten nach Nordwesten. Ohne Eile. Vier Tage lang hatte der Orkan gewütet und seine Spuren hinterlassen: zweitausend Tote in Haiti, dreihundert in Santo Domingo. Das aufgewühlte Meer überflutete den Malecón. Der Wind trieb das pulverisierte Salz der Gischt über die alten, zerfressenen Häuserfassaden. Ich hatte nichts zu tun. Zumindest nichts Dringendes. Auf lange Sicht gibt es immer Perspektiven, Hoffnung, Zukunft, alles wird besser werden, Gott wird uns beistehen. Doch alles nur auf lange Sicht. Gerade jetzt, in diesem Moment - nichts.
Ein Schwarzer stand unter der Fußgängerbrücke des Maceo-Parks und zeigte den Frauen seinen großen Schwanz, während er daran rieb und zupfte. Er war ziemlich angespannt und hüpfte hin und her, wobei er nach allen Seiten Ausschau hielt und an seinem langen, schwärzlichen Ding zerrte, damit es stand. Als er mich sah, veränderte sich sein idiotischer Gesichtsausdruck nicht im Geringsten. Er war bestimmt auf Marihuana, Koks oder Pillen. Die meisten Leute regen sich über solche Idioten wer weiß wie auf. Ich nicht. Mir ist das schnuppe. Vielen Frauen gefällt es sogar, solche Gepränge an Orten zu Gesicht zu bekommen, an denen sie normalerweise nicht zur Schau gestellt werden. Und es gibt auch Männer, die sich das gerne ansehen. Zumindest um sie zu beneiden.
»Ach, hätte ich doch bloß auch ein so großes, muskulöses Ding«, was sie nicht einmal auf brennendem Scheiterhaufen eingestehen würden. Und wenn man es ihnen auf den Kopf zusagt, sind sie beleidigt.
»Du hast immer nur Sauereien im Kopf, Pedro Juan, und glaubst, alle anderen auch.«
So gesehen erfüllen Exhibitionisten (und jeden Tag gibt es davon mehr in den Parks, Bussen und Torbögen) eine schöne soziale Funktion: Sie erotisieren die Passanten, lenken sie für einen Moment von ihrem Alltagsstress ab und erinnern daran, dass wir trotz allem nur Primaten sind, schlicht und schwach und vor allem unbefriedigt. Das Schönste auf der Welt ist, den Malecón mitten im Unwetter ziellos entlangzuspazieren. Du gehst, und manchmal denkst du an etwas und manchmal nicht. Am schönsten ist, an nichts zu denken, aber das ist fast unmöglich. Das schafft man nur durch viel Übung. Ein mexikanischer Tourist kam auf mich zu, lächelte und fragte mich mit seinem Michoacano-Akzent:
»Fängt der Sturm schon wieder an? Scheint so.« Ich antwor-tete nicht, wusste nicht, ob er wieder anfangen würde
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