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Pedro Juan Gutiérrez

Pedro Juan Gutiérrez

Titel: Pedro Juan Gutiérrez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schmutzige Havanna Trilogie
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wurde sie eine Luxus-nutte, parfümierte sich stark und trug glänzende rot-weiße Kleider. Jetzt hatte sie sich den Zeugen Jehovas sklavisch ergeben. Sie gab alles auf, um zu predigen, geht umher mit dicker Brille, in schlichten Kleidern in gedeckten Farben, unterm Arm die Bibel. Sie sah mich, und ließ mir keine Zeit. Sie trat auf mich zu und sprudelte über. »Bruder, liest du in der Bibel? Es gibt da einen Psalm, den ich mit dir erörtern möchte. Es ist der einundfünfzigste, der besagt: ›Hab Mitleid mit mir, o Gott, in deiner Barmherzigkeit, in deiner vielfachen Gnade besänftige meinen Aufruhr, reinige mich von allem Übel und läutere mich von meinen Sünden.‹ Weißt du, warum David um Läuterung flehte? Nicht? Ich bin sicher, du hast nie darüber nachgedacht.« O nein. Für sowas fehlt mir die Kraft. So ist es manchmal. Man langweilt sich, und es ist nichts zu machen. Ich zog los, um Rum und Zigaretten zu kaufen. Dann würde ich weitersehen.

 
     
Sohn des Chaos
     
    Durch das Fenster konnte ich im Nachbargebäude die alte, grauhaarige, vielleicht etwas verwahrloste und schmutzige Frau sehen. Sie saß im Schaukelstuhl, schaukelte wild vor und zurück und sang pausenlos, wobei sie Strophen aus der Internationale, der Nationalhymne, dem Marsch vom 26. Juli, der Hymne für die Alphabetisierer, der für die Milizen und wieder eine aus der Internationale mischte. Dann fing sie wieder von vorn an. Hier und da schwieg sie einen Moment, als wollte sie Atem holen.
    »Wer ist der Letzte? Gibt es keinen Letzten in dieser Schlange? Wer ist beim Brot der Letzte? Na schön, wenn es keinen Letzten gibt, bin ich die Erste, oh, tut mir Leid, ich habe gefragt, aber niemand hat geantwortet. Genossen, wer ist der Letzte?« Dann begann sie wieder: »Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun...«
    Ich wartete, dass mein Onkel von der Arbeit kam. Ich saß bestimmt eine halbe Stunde da und hörte der verrückten Alten zu. Erst war ich genervt. Nach einer Weile hörte ich sie nicht mehr. Ich hatte mich an ihre Paranoia gewöhnt. Ich begann mich gerade ein bisschen zu langweilen, als ein etwa sechzehnjähriger Bursche hereingestürmt kam, mich kaum grüßte, mir nur kurz zunickte und die Frau meines Onkels anschnauzte, eine Frau von fast sechzig. »Ich brauche ein Hemd und eine Krawatte vom Onkel. Los, schnell.«
    »Wofür?«
    »Für die Visa- und Passfotos. Schnell, Tante.«
    »Also hast du dich entschieden?«
    Der Bursche hörte nicht zu. Er ging zum Kleiderschrank, öffnete ihn und begann, nach einem weißen Hemd zu stöbern. »Dies hier. Bügel es mir auf, Tante.« Sie kamen zurück ins Wohnzimmer. »Carlitos, hast du schon Pedro Juan begrüßt?« »Ich weiß nicht, wer das ist.«
    »Natürlich kennt ihr beiden euch. Pedro Juan ist der Neffe deines Onkels, lebt in Havanna, und es ist Jahre her, seit ihr euch zuletzt gesehen habt. Das hier ist mein Neffe Carlitos.« Ich erinnerte mich jedenfalls überhaupt nicht an ihn. Dann hatte ich das Gefühl, ihn vage als kleines Kind in Erinnerung zu haben, stets hyperaktiv.
    »Ist er der Sohn von deiner Nichte Odalys?«, fragte ich sie.
    »Ja, Odalys' Jüngster.«
    »Ach ja, jetzt erinnere ich mich.«
    Sie sind Verwandte einer Frau meines Bruders. Doch die Dame ist auch die Frau meines Onkels. Manchmal steige ich selbst nicht mehr durch. Da kommst du nach Hause, und an allen Ecken triffst du Vetter und Neffen deiner Nichten und Neffen. Ich glaube, ich habe mehrere Hundert Verwandte. Dabei gehören sie gar nicht richtig zur Familie. Carlitos blickte auch nicht durch. Die Tante gab ihm eine abschließende Erklärung:
    »Er ist Zoilas Sohn. Zoilas Ältester.«
    »Ach, natürlich. Du bist jetzt nur kahler und magerer.« Fröhlich schüttelte er mir die Hand. Ich lächelte. Die Tante war wieder um Carlitos besorgt. »Du hast dich also entschieden?«
    »Ich war immer entschieden.«
    »Carlitos, dies ist eine ernste Angelegenheit fürs ganze Leben.«
    »Das weiß ich.«
    »Und was wirst du dort machen? Du hast keinen Beruf.« »Natürlich habe ich einen. Papi ist Besitzer einer Elektrofirma, und ich werde bei ihm arbeiten.«
    »Er arbeitet in einer Elektrofirma.«
    »Er ist der Besitzer.«
    »Aber, Carlitos, er lebt in New Jersey, und du sprichst kein Wort Englisch.«
    Der Junge wandte sich von der Tante ab und sagte zu mir: »Hör zu, Pedro Juan. Papi ist seit vier Jahren drüben und Besitzer einer Elektrofirma. Jetzt verlangt er nach mir. Nach mir und meinem Bruder. Aber mein Bruder will nicht

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