Pedro Juan Gutiérrez
Alten hatte ich völlig den Faden meiner Geschichte über Rogelio verloren. Ich hatte sie Jahre zuvor geschrieben. Rogelio war schließlich gestorben, und so erfand ich vieles in seinem Leben. Es ist keine so gute Geschichte. Am besten ist stets die Wirklichkeit, die harte Realität. Du findest sie auf der Straße. Du packst sie mit beiden Händen so, wie sie ist, und wenn du Kraft hast, hebst du sie auf und lässt sie auf die weißen Seiten niederkrachen. Das ist alles. Ganz einfach. Keine Korrektur. Manchmal ist die Realität so hart, dass man sie dir nicht glaubt. Die Leute lesen deine Geschichte und sagen:
»Nein, nein, Pedro Juan, hier stimmt was nicht. Da ist deine Fantasie mit dir durchgebrannt.«
Von wegen. Nichts davon ist erfunden. Ich war einfach nur stark genug, die ganze Masse an Realität zu packen und mit einem Schlag auf die leere Seite krachen zu lassen. Ganz einfach. Später fand ich heraus, dass Rogelio als Kind seine Mutter im Leichenschauhaus identifizieren musste. Ein Lieb-haber hatte sie in sechs Stücke geschnitten. Rogelio war acht. Von da an war's aus mit ihm. Seine Launen wechselten zwanzigmal am Tag. Er konnte vom sentimentalen Tränen-ausbruch direkt zu roher Gewalt übergehen, vom weichen Schwächling direkt zum furchtlosen Supermann. Ein Typ voller Widersprüche und ohne Rückhalt. Er war so liebebedürftig und feige und abhängig, dass er voller Angst alle Liebhaber seiner Frau tolerierte, einen nach dem anderen. Es gab immer einen. Mit sechsundvierzig konnte er nicht mehr und starb an einem Herzinfarkt. Jetzt, vier Jahre später, ist seine Frau ein wandelndes Skelett mit einem schweren Knochenleiden. Der jüngste Sohn sitzt die halbe Zeit im Gefängnis, die andere halbe Zeit irrt er verloren umher. Die Tochter ist eine billige Prostituierte in Hotels für Ausländer. Alle drei wollen nur eines: auswandern. Sie glauben, sie finden die Lösung aller ihrer Probleme in den Vereinigten Staaten. Sie leiden schlimmen Hunger, haben keinen Peso und erinnern sich überhaupt nicht mehr an Rogelio.
Ich muss die Geschichte also überarbeiten. Sie wird jetzt viel stärker. Ohne eine einzige Lüge. Nur veränderte Namen. Das ist mein Beruf: Scheiße aufwühlen. Das gefällt niemandem. Halten Sie sich etwa nicht die Nase zu, wenn der Müllwagen vorbeifährt? Verbergen Sie etwa nicht ihre Mülltonne in einer Ecke? Meiden Sie etwa nicht die Müllmänner, Totengräber, Kanalisationsarbeiter? Empfinden Sie keinen Ekel beim Wort Aas? Deshalb lächelt man mir auch nicht zu, sondern blickt weg, wenn ich komme. Ich bin ein Scheißeaufwühler. Und ich suche nicht etwa etwas in der Scheiße Verborgenes. Gewöhnlich finde ich nichts. Ich kann nicht sagen: »Hier, schaut her, ich habe einen Brillanten in der Scheiße gefunden oder eine tolle Idee oder sonst was Schönes.« Hab ich nicht. Ich suche nichts und finde nichts. Insofern kann ich nicht zeigen, dass ich ein Pragmatiker und sozial von Nutzen bin. Ich mache es nur wie die Kinder: Sie kacken und spielen dann mit ihrer eigenen Kacke, riechen daran, probieren sie und haben viel Spaß, bis Mama kommt und ihnen die Kacke wegnimmt, sie badet, parfümiert und sie darauf hinweist, dass man das nicht tut.
Das ist alles. Mich interessiert nichts Dekoratives, Schönes, Süßes oder Köstliches. Deshalb hatte ich immer Zweifel an der Bildhauerin, mit der ich mal eine Zeit lang verheiratet war. Es lag zuviel Frieden in ihren Skulpturen, um gut zu sein. Die Kunst taugt nur dann etwas, wenn sie rücksichtslos, beängstigend, voller Albträume und Verzweiflung ist. Nur eine wirre, unanständige, grausame, obszöne Kunst ist imstande, uns das Gesicht der anderen Welt zu zeigen, die wir nie sehen oder nie sehen wollen, um jede Beunruhigung unseres Gewissens zu vermeiden.
Also nichts mit Frieden und Ruhe. Wer es schafft, in Ausgeglichenheit zur Ruhe zu kommen, ist Gott viel zu nahe, um Künstler zu sein.
Ich steckte die Hände in die Taschen, und fühlte die Zwan-zig-Dollar-Note. Ich wollte mir eine Flasche Rum und eine Schachtel Zigaretten kaufen. In meinem Zimmer auf dem Dach musste der Sturm ganz schön wüten. Und noch viel besser wäre, eine Mulattin mit hinaufzunehmen. Und prompt kam aus irgendeiner dunklen Ecke diese verrückte Schwarze. Wir kannten uns vom Sehen. Ich grüße nie, aber sie ist immer ziemlich keck und sucht das Gespräch. Eilig kam sie auf mich zu. Ein paar Jahre lang war sie die ärmste, schmutzigste und stinkendste Frau weit und breit. Dann
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