Peehs Liebe
aber nichts damit anzufangen wusste. Der Flügel hatte jahrelang unter dem Stroh in der Scheune gestanden, bis Vincentini eines Tages vorbeigekommen war. Vincentini lieà ihn unter einer Plane auf einem Traktoranhänger zur Pension bringen. Er wollte Kathy eine Freude machen. Der Flügel war völlig verstimmt. Als der Deckel geöffnet wurde, war im Inneren alles staubig und voller Spelzen, sogar Mäuse hatten sich imGehäuse eingenistet. Kathy klappte den Deckel sofort wieder zu und stellte eine Blumenvase darauf. Der Flügel wurde erst wieder angerührt, als Peehs Mutter versuchsweise auf ihm spielte. Das Instrument gab nur schräge Laute von sich, und doch bemerkte Peehs Mutter gleich, dass der Flügel sehr wertvoll war. Sie lieà einen Klavierstimmer kommen, der die Mäuseskelette, den Kot, die Spelzen und den ganzen Unrat entfernte und die Saiten stimmte. Danach hatte der Flügel einen wunderschönen Klang, besonders wenn Peeh spielte. Ich hörte Peeh beim Ãben zu, vernahm die Töne auch, wenn sie nicht spielte; es war, als würde es weiterklingen wie ein Echo. Bisweilen höre ich sie heute noch, aber so leise, als ob sie viele Jahre entfernt in einer anderen Zeit, an einem Ort spielt, den es nicht mehr gibt.
Auch wenn ich nicht sprechen konnte, behielt ich fast alles, wovon aber niemand wusste. Weil ich keine Wörter für die Dinge hatte, dachten alle, ich sei blöde und könne mir nichts merken. Sie dachten, man könne sich nur auf ihre Weise erinnern. Daher benahmen sich die Menschen in meiner Gegenwart, als sei ich nicht vorhanden, redeten und taten, was sie wollten, denn ich würde es ohnehin niemandem sagen können. Ich fühlte mich, als würde ich mit einer Tarnkappe herumlaufen, war jemand, der gar nicht vorhanden war. Nicht einmal Kathy sprach mit mir, um mir etwas mitzuteilen, sondern sie redete nur mit sich selbst. Ebenso wie Vincentini, wenn ich mit ihm auf seinen Verkaufsfahrten unterwegswar, endlos von dem Perseusgerät und vielen anderen Dingen erzählte. Das Schlimme war, ich behielt selbst den gröÃten Unsinn. Vielleicht vergaà ich nichts, weil ich mit niemandem reden konnte, vielleicht sprechen die Menschen nur miteinander, um Dinge endlich zu vergessen.
Teil 2
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In der Empfangshalle des Altenheims befand sich eine Galerie alter Fotografien des Bergwerkes. Sie zeigten die Verwaltungsgebäude inmitten des Parks, die Aufbereitungsanlagen am Schafsberg, unterschiedliche Förderanlagen, das Hügelland zwischen Kermeter und Kahlenbusch und den Broogberg, wo Strohwang nach seinem Schatz gesucht hatte. Auf den Bildlegenden war zu lesen, dass hier einmal das gröÃte Bleibergwerk Europas gestanden hatte, in dem Hunderte Bergleute beschäftigt waren. Auf einer Fotografie wimmelten sie zahlreich wie Ameisen in einer Grube, auf einer anderen marschierte die musizierende Bergwerkskapelle bei einem Umzug durch Kall. Annie stand in der Empfangshalle, betrachte die historischen Bilder und Ansichtskarten. Verblasste Fotografien von Arbeitern mit Schaufel und Hacke neben einer Lore, Fotografien der Bedienungsmannschaften vor der Dampflok und dem Dampfbagger, von Bergleuten bei Bohrarbeiten zum Vortrieb einer Strecke im Untertagebau, Arbeitern beim Gebet vor der Einfahrt in den Stollen. Auf einer Fotografie sah man Bergassessor Franz Ehring, ein glatzköpfiger Mann mit Hornbrille, an einem Rednerpult bei der Festansprache zum Bergfest. Einige Monate später trat er vor die Belegschaft und verkündete das Ende des Bergbaus in der Eifel. Weitere Fotos zeigten die Sprengung des groÃen Förderturms, der Aufbereitungsanlagen, des Königspochwerks. Geblieben warendie berghohen Bleisandhalden, der Broogberg und der Malakowturm am Brackwassersee sowie die Verwaltungsgebäude, in denen sich jetzt das Altenheim befand.
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Eine graue Wolkenschicht lag seit Tagen über der Ebene. Die Truthähne drauÃen im Garten schienen dieses Wetter zu mögen, sie stolzierten umeinander und plusterten ihr Gefieder auf. Schwester Magda knöpfte vorsichtig das Nachthemd der zierlichen toten Greisin auf, die einmal Balletttänzerin gewesen war. Noch vor zwei Tagen hatte sie im Aufenthaltsraum getanzt. Sie hatte seit Jahren alles vergessen, wusste weder ihren eigenen Namen, noch erkannte sie jemanden wieder. Doch ihr Körper hatte sich nach seinen eigenen Erinnerungen bewegt, nach der Choreografie eines Tanzes, mit
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