Peehs Liebe
hinunterfällt, aber sie behauptete allen Ernstes, sie könne fliegen, und blieb mit ausgebreiteten Armen vor dem Abgrund stehen. Ich war beruhigt, wenn sie sich wieder zu mir auf die Bank setzte: An unserem Platz war einmal eine Wüste gewesen, eine Wüste wie dort, wohin der Archäologe gereist war. Wir saÃen oft bis zum Morgen auf der Broog-Bank, dann musste Kathy wieder in der Reinigung arbeiten.
Auf der StraÃe, die an der Reinigung vorbeiführte, ratterten Tag und Nacht Steinlastwagen vorbei, Gesteinsbrockenund Dreck fielen auf den Bürgersteig und zerplatzten. Wenn es regnete, bespritzten die Lastwagen das Schaufenster. Kathy schimpfte deswegen über die Fahrer, von denen manch einer für eine halbe Stunde zu ihr kam und mit ihr im Bügelzimmer verschwand, danach verlieà er gut gelaunt die Wäscherei, setzte seine Tour fort und fuhr tage- und nächtelang weiter im Kreis. Die Steinlaster transportierten Kalkgestein vom Steinbruch durch Kall hindurch nach Sötenich zum Zementwerk, fuhren dann durch das Dahlbendener Tal, über Urft nach Keldenich zurück, wo kurz vor Keldenich der Steinbruch lag. Sie fuhren in den Steinbruch, luden Gestein auf, das sie zum Zementwerk transportierten. Wenn Kathy nachmittags in der Reinigung arbeitete, fuhr ich oft in einem der Lastwagen mit. Dabei lernte ich Karl Höger kennen. Höger war damals noch ein junger Mann, der gerade seinen Lastwagenführerschein gemacht hatte. Er träumte davon, Auslandstouren zu fahren. Höger hielt als Einziger immer an, wenn ich an der StraÃe stand. Ich kletterte die hohen Tritte zur Fahrerkabine hinauf und setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz. Sonntags ging ich mit Kathy ins Kino, wir sahen «Ben Hur», den «Schatz im Silbersee» oder «Lawrence von Arabien». Meinen Vater stellte ich mir ungefähr wie Lawrence vor, als schlanken Mann mit hellen, stechenden, blauen Augen, der durch die Wüste wanderte und nach unter dem Sand verborgenen römischen StraÃen suchte. Kathy erzählte mir, sie sei mit dem Archäologen im Kino gewesen. Abends nachder Vorstellung sei sie mit ihm zum Broogfelsen gegangen. Sie erzählte, wie er sie in die Arme genommen und geküsst habe, jedes intime Detail schilderte sie, weil sie annahm, ich verstünde nichts. Ich glaube, bestimmte Dinge kann man niemandem sagen, noch nicht einmal sich selbst. Ich begriff damals kein Wort, es war, als würde alles um mich herum rauschen, ein Brei, der zwischen Dingen, Worten und Melodien lebte und so schmeckte wie Mus aus Berlepsch-Ãpfeln und Peehs Speichel.
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Annie fuhr nach dem Nachtdienst auf ihrem Motorroller zur Pferdewiese. Sie trug die bunte Wollmütze der verstorbenen Tänzerin, einen Schal und eine warme Jacke. Auf dem Weg zu Azzurro kam sie am Schnellrestaurant im Industriegebiet vorbei. Sie entschloss sich, dort zu frühstücken, setzte sich ans Fenster, aà einen Cheeseburger, trank dazu einen Milchkaffee und blickte zur SchnellstraÃe auf vorbeirauschende Fernlastzüge. Als sie vor Jahren nach Kall gezogen war, hatte sie die ersten Monate in diesem Restaurant gearbeitet. Sie war damals noch mit Gabriel zusammen gewesen, der einige Wochen später zu seiner Frau und den Kindern zurückgekehrt war. Als man ihr im Restaurant gekündigt hatte, hatte sie auf der Risahöhe angefangen zu arbeiten. Zuerst hatte sie in der Küche ausgeholfen, später war sie als Hilfspflegerin eingestellt worden. Sie hatte seither nichts mehr von Gabriel gehört. Vor einigen Tagen hatte er eine Nachricht auf der Mailbox ihres Telefons hinterlassen, die sie, ohne sie anzuhören, gelöscht hatte. Sie fröstelte, obwohl es im Restaurant angenehm warm war.
Nachdem sie gefrühstückt hatte, fuhr sie am Möbelgeschäft Brucker vorbei, durch einen Kreisverkehr und dann aus dem Ort hinaus. Oben auf dem Berg thronte eine Dorfkirche, die auf einem ehemaligen römischen Kastell errichtet worden war; nachts wurde sie von Scheinwerfern angestrahlt. Annie befand sich nun auf der StraÃeder Steinlaster, der StraÃe, auf der Rosarius durch die ganze Welt gereist war. Das Zementwerk, für das die Wagen Kalkgestein transportiert hatten, hatte seit einigen Jahren die Produktion eingestellt, den Supermarkt mit der Cafeteria, in dem Rosarius als Hilfskraft gearbeitet hatte und von dem er oft redete, gab es noch. Annie glaubte Rosarius jetzt, dass es Peeh und all die
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