Peehs Liebe
Zweigen, so unerschöpflich viele wie Fichten, Kiefern- und Tannennadeln, die die Waldböden der ganzen Welt bedecken.
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Rosarius saà den ganzen Tag an seinem Fensterplatz und sah zu den Truthähnen hinaus, deren Gefieder grau schimmerte. Manchmal summte er Worte, als würde er sie aus- und einatmen, als wären sie Teil einer Melodie, eine fremde Gewalt, die ihn irgendwann endlich ins Grab legte, eine Gewalt, von der er nichts wusste. Die Truthähne waren schon im Garten gewesen, als Rosarius zum ersten Mal im Pflegeheim aufwachte. Damals hatte er geglaubt, er wäre in der Unterwelt angekommen. Ständig hatte er von Peeh gesprochen und Passagen aus dem «Hyperion» geraunt und in fremden, selbst erdachten Sprachen geredet. Erst langsam war es ihm besser gegangen, hatte er wieder bestimmte Dinge und die Wirklichkeit wahrgenommen.
Aus Rosariusâ Mundwinkel rannen Speichelfäden. Er weigerte sich an diesem Abend, sein Essen einzunehmen. Annie fütterte ihn. Danach ging sie zum Klavier im Empfangsraum. Das Klavier hatte lange ungenutzt dort gestanden. Sie zog das staubige Tuch weg, legte es über eine Stuhllehne, ihre Finger berührten zaghaft die Tastatur. Sie hatte viele Jahre nicht mehr gespielt. Ihre Fingerkuppen erinnerten sich, als sie die Tasten spürten, wieder an Melodien, an Lieder, die ihre Mutter ihr als kleines Mädchen beigebracht hatte. Rosarius wurde aufmerksam, als er die ersten Töne hörte. Er begann zu summen, glaubte, diese Melodien zu kennen, summte, wie er als kleiner Junge gesummt hatte. Er schaukelteunruhig lächelnd in seinem Rollstuhl, bis er schlieÃlich umkippte und hilflos auf dem Boden lag. Annie eilte hinzu, richtete ihn mithilfe einer Kollegin wieder auf, setzte sich zu ihm und versuchte ihn zu beruhigen.
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A ls Mitte der Fünfzigerjahre Vincentinis Holzgeschäfte nicht mehr gut liefen, verschwand er und war für einige Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Seine Pension wurde verkauft, und wir zogen von Keldenich nach Kall, wo Kathy in der «Wäscherei & Reinigung» Moog unterkam. Sie nahm dort Kleidungsstücke entgegen, befestigte jeweils einen Zettel mit Nummern daran, legte sie in einen Korb. Danach wurde die Wäsche in einen Raum gebracht, wo sie durcheinander auf einem groÃen Haufen lag. Im Dunkel des fensterlosen Raums befanden sich nur Kleider. Ich lag oft den ganzen Tag unter ihnen. Sie schütteten Körbe mit Wäsche über mir aus. Anzüge, Röcke, Kostüme, Vorhangstoffe aus Seide und Wolle, Popelinemäntel, Ball- und Hochzeitskleider, Trikots der FuÃballmannschaften, die Kittel des Apothekers, Sartoriusâ Polizeiuniformen, Rüschenblusen der Kirchenchorsängerinnen, Delamots Friseurkittel, Anzüge des Schuldirektors, die Mieder vieler Frauen. Betäubt von diesen Gerüchen lag ich mit ausgebreiteten Armen leise summend im Dunkel. Ich schwebte glücklich im Duft von spitzen, festen, kleinen und vollen Brüsten, im Schweià von Schamhaaren, roch genau, wer mit wem zusammen gewesen war, dachte mir Geschichten aus, die geschehen waren oder einmal geschehen würden. Einmal roch ich Berlepsch-Ãpfel in einem walnussbraunen Kleid mit erbsengroÃen weiÃen Punkten, Peehs Kleid. Ich wollte nicht, dass es gereinigt wurde. Ich wollte immer wieder an ihm riechen und mich erinnern. Ich nahm ihr Kleid, versteckte es undgab es nie wieder her, auch nicht als Kathy wegen des verschwundenen Kleides viel Ãrger bekam.
Im Herbst, wenn die Berlepsche reif waren, lief Kathy mit mir abends nach Keldenich zu der Wiese vor unserer früheren Pension. Der neue Besitzer hatte die Wiese eingezäunt. Wir krochen unter dem Zaun hindurch, schlichen zu unserem Berlepsch-Baum. Ich kletterte an seinem Stamm hoch, pflückte seine Ãpfel und reichte sie Kathy hinunter, die sie behutsam in einen Korb legte. Dann liefen wir zum Broog, wo wir uns auf unsere Bank setzten und Ãpfel aÃen. Ich dachte an Peeh, daran, wie ich mit ihr im Baum gesessen hatte und Berlepsch-Mus aus ihrem Handteller geleckt hatte, sie mich dabei ein wenig schielend aus leuchtenden Augen angesehen, dann wieder etwas Mus auf ihre Hand gespuckt und mit der anderen Hand über meinen Glatzkopf gestreichelt hatte, während ich das Mus gierig aus ihrer Hand leckte.
Kathy hat mir bei der Bank immer von ihrem Archäologen erzählt und ist dabei dicht am Felsenabgrund balanciert. Ich hatte Angst, dass sie
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