Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
nicht perfekt. So wie wir alle erwarten, dass uns die anderen verzeihen, so wollen wir nachsichtig sein mit Tom Truninger. Es gibt jemanden, der ihm nicht verzeihen konnte und sich auf grausame Art und Weise gerächt hat. Die Behörden werden diese Person finden und einer gerechten Strafe zuführen. Aber wir, Familie, Freunde, Bekannte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir wollen uns an das Gute in Tom erinnern, unser ganzes Leben lang.“
Die Musik, die jetzt erklang, liess Marina erschauern, sie senkte den Kopf. Wonderful Tonight von Eric Clapton war schon damals ein Lieblingssong von Tom gewesen, und er hatte ihn wohl all seinen Geliebten vorgespielt, inklusive Maggie. Nick nahm ihre Hand und lächelte ihr zu, sie schüttelte nur den Kopf, die Tränen liessen sich nicht aufhalten.
„Mein kleiner Bruder ist tot und ich konnte ihn nicht beschützen.“ Eine Frauenstimme, gebrochen, leise. „Früher, als wir Kinder waren, wusste ich, welche Gefahren auf ihn lauerten und wie ich ihn davor bewahren konnte.“ Sie sprach zögernd, mit langen Pausen zwischen den Worten. „Als er nach Amerika ging, konnte ich ihm nicht folgen, aber ich betete für ihn und zündete jedes Mal eine Kerze an, wenn ich spürte, dass er einen Schutzengel brauchte. Als er Maggie heiratete, und als Selma auf die Welt kam, da wusste ich, dass die kleine Familie jetzt für ihren eigenen Schutz sorgen würde, aber in meine Fürbitte schloss ich sie alle immer ein. Es hat nicht gereicht, ich wusste nicht einmal, dass er in Gefahr war. Möge der Allmächtige in seiner Güte ihn zu sich nehmen und ihm ewiges Leben geben.“ Die schmächtige Frau stützte sich auf den Arm von Andrew, der sie zu ihrem Stuhl zurückbrachte.
„Sie sieht aus wie siebzig, aber so alt kann sie nicht sein, oder?“ flüsterte Nick Marina zu.
„Nein, aber über sechzig ist sie schon, etwa zehn Jahre älter als Tom. Es gibt eine ganze Reihe von Geschwistern, sie sitzen alle in der vordersten Reihe.“
Andrew Ehrlicher sprach zum Schluss noch einmal. „Die Beisetzung findet gleich anschliessend im engsten Kreis auf dem Friedhof statt. Sie sind alle herzlich eingeladen, im Restaurant des Casinos auf unseren Tom Truninger anzustossen.“ Er kämpfte gegen die Tränen. „Tom, mein Freund, verzeih mir für all das, was ich für dich nicht sein konnte. Wir lassen dich ziehen mit der letzten Musik, im Wissen, dass du so gelebt hast wie du es wolltest.“ Frank Sinatra sang I Did It My Way, und als das Lied ausklang, erhob sich die Familie und ging langsam zum Ausgang. Marina hängte sich bei Nick ein, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Ich will dich nicht verlieren, mein Liebster.“
„Ich werde mein Möglichstes tun, Marina. Ich liebe dich, und wenn du willst, bleibe ich bei dir.“ Sie nickte nur.
„Bitte kommen Sie mit zum Grab, wenn Sie Zeit haben“, sagte Andrew Ehrlicher, als Nick und Marina der Familie kondolierten. Er drückte beiden eine weisse Rose in die Hand, und sie folgten Maggie und Selma durch den Friedhof zu den Gräbern. Hier gab es keine Ansprachen mehr, einer nach dem anderen legten die Trauernden ihre Rose auf die frische Erde, blieben einen Moment stehen, sprachen leise oder blieben stumm, bekreuzigten sich oder neigten den Kopf.
Ganz am Schluss nahmen Maggie und Andrew die kleine Selma in ihre Mitte und traten ans Grab. Maggie hielt die einzige rote Rose an ihr Gesicht, ihre Lippen bewegten sich in stummer Zwiesprache mit ihrem toten Mann, dann legte sie die Blüte hin und trat einen Schritt zurück. Andrew legte seinen Kopf in den Nacken, als ob er den Himmel anklagen wollte, nach einer langen Zeit erst beugte er sich hinunter und liess seine Blume fallen. Nur noch Selma stand jetzt ganz nahe am Grab. „Du hast heute so viele Blumen bekommen, Papa“, sagte das Mädchen mit heller und klarer Stimme, „ich werde meine behalten, damit ich dich nicht vergesse. Hasta la vista, Baby.“ Sie drehte sich um und ging davon, mit erhobener Hand winkte sie zurück.
Andrew und Maggie folgten ihr, und die Trauergäste zerstreuten sich langsam. Auch Nick und Marina schlossen sich an, er musste zurück an die Arbeit, und sie hatte entschieden, noch für eine halbe Stunde ins Casino zu gehen.
Und so kam es, dass keiner mehr sah, wie eine schwarz gekleidete Frau mit Hut und Schleier hinter einem grossen Baum hervortrat. Auch sie trug eine weisse Rose in der Hand, auch sie trat ans Grab von Tom Truninger, auch sie blieb ein paar Sekunden
Weitere Kostenlose Bücher