Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
Sie sich an Ihrem ersten Arbeitstag Zeit nehmen für uns, Frau Fischer. Hatten Sie ein gutes Seminar?“
„Gut ist in diesem Zusammenhang ein relativer Begriff, Herr Baumgarten. Man lernt an solchen Veranstaltungen viel über sich selbst, was nicht immer nur angenehm ist. Ich würde es so formulieren: es waren zehn anspruchsvolle Tage, die hoffentlich ihre Wirkung entfalten werden.“ Sie lächelte ihn an. „Auf jeden Fall nur etwas für stabile Persönlichkeiten.“ Sie faltete ihre Hände auf dem Tisch und wartete.
Nick musterte sie und sagte mindestens eine Minute lang nichts. Die meisten Menschen begannen von sich aus nach etwa zwanzig Sekunden zu sprechen, aber Viktoria Fischer hielt die Stille ruhig aus und schaute ihm unverwandt in die Augen.
„Frau Fischer, wie reagierten Sie, als Ihnen Ihr Kollege Stephan Müller vom Tod der Patientin Sybille Senn berichtete?“
„Ich konnte es ehrlich gesagt kaum glauben. Die Entwicklung der Patientin über die letzten Wochen war so positiv, dass ich sie niemals als suizidgefährdet eingestuft hätte. Es muss etwas geschehen sein, was die therapeutischen Fortschritte auf einen Schlag zunichte machte.“ Wieder schwieg sie.
„Sie meinen den Mord?“ Auch Nick konnte sich wenn nötig kurz fassen.
„Ich meine gar nichts, Herr Baumgarten. Ich äussere nur meine professionelle Meinung, wonach irgendetwas vorgefallen sein muss, was Sybille Senn buchstäblich um den Verstand brachte.“
„Und haben Sie eine professionelle Meinung dazu, was es gewesen sein könnte?“
Sie lächelte spöttisch. „Ich werde mich hüten, irgendwelche Hypothesen aufzustellen.“
Nick gab sich einen Ruck, er hatte genug davon, Katze und Maus zu spielen. „Frau Fischer, Ihr Kollege hat Sie darüber orientiert, dass der ehemalige Arbeitgeber von Frau Senn, der Direktor des Grand Casinos, ermordet wurde, und dass wir Sybille Senn als mögliche Täterin in Betracht ziehen.“
„Ja, das habe ich von Stephan Müller gehört.“ Keine weitere Aussage.
„Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Patientin einen Mord beging und anschliessend ihr eigenes Leben beendete?“
„In der Betreuung von psychisch kranken Menschen ist nichts unmöglich, Herr Baumgarten. Unberechenbarkeit ist Teil unseres Berufs.“ Viktoria schob eine blonde Strähne hinters Ohr. „Ich kann dazu nur sagen, dass ich es für höchst unwahrscheinlich halte, dass Sybille Senn jemanden ermordet hat.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte ihre Arme.
„Warum ist es unwahrscheinlich?“
„Weil Frau Senn zwar auf dem Weg der Genesung war, aber trotzdem nicht genug Ich-Stärke besass, um einen allfälligen Vorsatz dieser Grössenordnung zu planen und in die Tat umzusetzen. Sie wissen es selbst am besten, Herr Baumgarten: alle Menschen hegen ab und zu Mordgedanken, und nur die wenigsten morden in der Realität.“
„Erklären Sie einem Laien wie mir das Wort Ich-Stärke, bitte.“ Er mochte den Psycho-Jargon nicht.
„Jemand mit einem starken Ich ist in der Lage, zur Erreichung seiner Ziele den Verstand einzusetzen, einen Ablauf schrittweise zu planen und dementsprechend zu handeln.“ Viktoria unterstrich ihre Aussage mit den Händen. „Ob das Ziel dabei rational oder moralisch akzeptabel ist, ist irrelevant. Es geht wie gesagt nur darum, einen Gedanken konsequent und logisch in die Realität umzusetzen, und dazu war das Ich von Frau Senn meines Erachtens noch zu schwach. Allerdings kann ich mich täuschen.“ Sie öffnete ihre Mappe und begann, die Papiere auf dem Tisch hineinzulegen. „Gibt es sonst noch etwas, Herr Baumgarten, oder darf ich jetzt zu meinen Patienten fahren?“
„Sie kannten Tom Truninger, und Sie hatten Grund, ihn zu hassen.“ Nick startete einen Überraschungsangriff und beobachtete sein Gegenüber genau. Aber seine Gesprächspartnerin war ihm ebenbürtig: keine ungebührliche Regung in ihrem Gesicht, kein Flackern von Unsicherheit, keine Angst. Eine erfahrene Pokerspielerin, und offensichtlich auf die Frage vorbereitet. Sie hob ihre Augenbrauen und sagte: „Gut recherchiert, Herr Kommissar, Kompliment.“ Und wieder schwieg sie und wartete.
„Sie hätten ein Motiv gehabt, Truninger umzubringen. Wir wissen allerdings auch, dass Sie ihm nicht selbst ein Messer in den Rücken gestossen haben, weil Sie zur Tatzeit nachweislich in Viktorsberg waren.“
„Wie ich schon gesagt habe, Herr Baumgarten: der Wunsch, jemanden umzubringen, reicht allein nicht für die Tat. Und wenn
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