Peetz, Monika
»Das Leben mit Gott und wie Gott in Frankreich
bekommt hier einen neuen Sinn. Wenn die Kräuter der Garrigue sich mit zartem
Olivenöl vereinen, versteht man, dass die bescheidenen Genüsse das Königreich
bedeuten.«
Estelle
brach ab.
»Ich habe
noch andere Stellen gefunden«, berichtete sie weiter. »Die Geschichte mit den
Mönchen, die ihn mit offenen Armen empfangen haben: alles abgekupfert. Arne Nowak
hat sein Tagebuch zusammengeklaut.«
Caroline
war sprachlos. Nur das ewige Tropfen der Dusche klang im Raum. Die Kälte, die
die Fliesen ausstrahlten, kroch ihr den Rücken hoch. Sie hätte besser eine
Jacke übergezogen. Aber sie war nicht vorbereitet. Nicht auf die Dusche, nicht
auf die Kälte, nicht auf das, was Estelle ihr mitteilte. Ausgerechnet Arne, der
aus Wolken ganze Romane lesen konnte, griff bei seinem Tagebuch auf
vorgefertigte Formulierungen zurück?
»Die
Pilgerreise von Arne ist eine Erfindung?«, wunderte sich Caroline.
»Wenn das
so einfach wäre«, seufzte Estelle und fischte aus einer versteckten Lasche im
Deckel des Tagebuchs einen Schmierzettel.
»Lieber
Arne, Samu kommt um 17.00 Uhr aus Angles. D.«, entzifferte Caroline das undeutliche
Gekrakel.
»Angles
ist kurz vor Lourdes«, hatte Estelle bereits recherchiert. »Zwei Tagestouren
von hier.«
»Das
heißt, Arne war hier in der Gegend?«
»Und lügt
trotzdem im Tagebuch«, schloss Estelle.
Ergab das
einen Sinn? Welchen Grund hatte Arne, über seine Pilgerfahrt zu lügen? Was
verbarg sich hinter dem mysteriösen Zettel?
»Samu
kommt um 17.00 Uhr. Samu. Samu«, murmelte Caroline ein paarmal hintereinander.
»Das hab ich schon mal gehört. Samu.«
Der Name
rief bei ihr eine vage Erinnerung wach. Es war wie ein Wort, das auf der Zunge
lag und nicht herauswollte. Estelle war mit ihren Gedankengängen einen Schritt
weiter. Sie formulierte glasklar, was zu tun war: »Wir müssen diesen Samu in
Angles finden. Und D.! Das sind wichtige Zeugen.«
Caroline
war sich bewusst, dass sie eine unsichtbare Grenze überschritten hatten. Aus
dem vagen Gefühl im Magen waren tastbare Beweise geworden. Aber was für eine
Tat verbarg sich dahinter? Welche Wahrheit versuchte Arne zu verschleiern?
Wer weiß, welche Lawine sie unvorsichtigerweise in Gang gesetzt hatten. Das
Bild, das sie vom Ehemann ihrer Freundin in ihrer Erinnerung trug, bekam Risse.
Wenn es
einstürzte, wie viel von Judiths Leben würde es mitreißen?
Estelle
seufzte auf: »Zum ersten Mal verstehe ich, was du an deinem Beruf findest.«
Sie klang
begeistert. Caroline hatte eine klare Idee, wohin das führte, wenn Estelle für
etwas entflammte. Sie würde Gott, der Welt und allen anderen Mitteilung davon
machen.
»Kein Wort
zu Judith!«, mahnte sie.
Estelle
hob pathetisch die Finger zum Schwur: »Ich schweige wie ein Grab.«
Sie machte
eine bedeutungsvolle Pause. »Ich kann es ja mal versuchen.«
45
»Ich bin mir sicher, dass ich das Tagebuch unter mein
Kissen gelegt habe. So wie jeden Abend. Heute Morgen lag es unter meinem Bett.«
Judith
erschien aufgelöst beim Frühstück in der Auberge de la Paix. Estelle schwieg.
Sie wusste genau, warum Judith so verstört war. Das Tagebuch unter dem
Kopfkissen hervorzuziehen war ein Kinderspiel gewesen, es an den ursprünglichen
Platz zurückzulegen, stellte sich als komplizierte Aufgabe heraus. Als sie die
Tür vom Schlafsaal geöffnet hatte, war Judith wach geworden. Estelle war dem
drohenden Unheil nur entgangen, indem sie das Buch hastig unter Judiths Bett
schleuderte.
Mit dem
festen Vorsatz, wach zu bleiben und das Buch später an den ursprünglichen Ort
zurückzulegen, war Estelle sanft entschlummert. Bis Judith sie wachrüttelte.
»Ich glaube, hier spukt es«, wisperte sie.
Die
Begegnung mit dem dämonischen Pilger saß ihr so in den Knochen, dass sie nicht
auf die Idee kam, dass die mysteriöse Wanderschaft des Tagebuchs auch ganz
profane Gründe haben konnte. Sie war überzeugt, dass die Ölmühle und die
Kapelle ein unheilvoller Ort waren.
Estelle
schwieg, als Judith ihre Sachen eilig zusammenraffte. Sie schwieg beim
Frühstück, als Max sich bei Caroline erkundigte, wo sie in der Nacht so lange
gewesen sei. Sie schwieg, als Judith zum schnellen Aufbruch mahnte. Sie war gut
im Schweigen. Und beeilte sich doch, dem ungewohnten Zustand ein rasches Ende
zu bereiten. Estelles Mission war einfach. Sie hieß: »Bringen wir es hinter
uns.« Um den heißen Brei herumzuschleichen, war ihr Ding nicht.
Frei nach
dem
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