Peetz, Monika
Motto, die Letzten werden die Ersten sein, hatten sich die Dinge gewandelt.
Auf den Etappen nach Angles marschierte eine hoch motivierte Estelle als Erste
vorneweg. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich als Erste mit Schafen,
Ziegen, Kühen und wilden Hunden auseinandersetzen musste, die sich der
Wandergruppe immer wieder in den Weg stellten. Als Estelle zum ersten Mal eine
zu Tode erschrockene Ziege vom Weg verjagt hatte, fühlte sie sich wie Indiana
Jones, der auf der Suche nach der Wahrheit Abenteuer zu bestehen hatte. Es
wäre zum Lachen gewesen. Wenn es nicht um Judith ginge. Neben ihr stapfte Eva
mit neuem Schwung und neuen Erkenntnissen.
»Weißt du,
was so toll am Laufen ist«, vertraute sie der Freundin an, »zum ersten Mal seit
Jahren spüre ich mich wieder.«
Estelle
nickte bestätigend: »Wenn Selbsterkenntnis sich anfühlt wie Muskelkater, bin
auch ich auf einem guten Weg.«
Estelle
drehte sich um, suchte den Blick von Caroline, die gemeinsam mit Kiki hinter
ihr lief, und zwinkerte ihr zu. Caroline sollte wissen, dass sie sich auf sie
verlassen konnte. »Tu Gutes und sprich darüber«, nannte man das in den Kölner
Charity-Kreisen. Was für einen Sinn hatte es, Opfer zu bringen, wenn niemand es
mitbekam?
46
»Was ist
denn mit Estelle los?«, wunderte sich Kiki. Sie begriff sofort, dass etwas
nicht stimmte.
Caroline
wich aus: »Vermutlich ein nervöses Augenleiden.«
»So was
habe ich auch«, meinte Kiki mit gespielter Verzweiflung. »Immer wenn ich mich
umdrehe, sehe ich Max Thalberg.«
Jeder trug
seinen eigenen Rucksack. Der von Kiki hieß Max und lief von selbst. Er
bedrängte sie nicht, er forderte nichts.
»Ich
möchte, dass du weißt, dass ich da bin«, rechtfertigte er sich lapidar.
»Merkst du
nicht, dass du meinen Freundinnen auf die Nerven gehst? Du störst!«, knallte
Kiki ihm an den Kopf »Nein«, sagte Max.
Kiki
wusste, dass er recht hatte. Max war selbstverständlicher Teil ihrer
Wandergruppe geworden. Und für Judith ein wichtiger Ansprechpartner. Heimlich
bewunderte Kiki die Geduld, mit der Max sich Judiths Geschichten anhörte. Seine
Neugier wirkte aufrichtig. Sie vermutete, dass er so ganz nebenbei eine Menge
über Kikis Vergangenheit erfuhr.
»Wie lange
willst du so tun, als wäre Max nicht da? Du musst dich mit ihm aussprechen«,
drängte Caroline.
Kiki
behandelte Max wie Luft. Max ertrug es mit süffisantem Lächeln und
unerschütterlich guter Laune. Kiki war mit der Situation restlos überfordert.
Sie war so damit beschäftigt, Max zu übersehen, dass sie keinen klaren
Gedanken fassen konnte. Seit Tagen hatte sie keinen Strich mehr aufs Papier
bekommen.
Dabei
hatte sich alles so gut angelassen: Die Pilgerreise gab ihr die einmalige
Chance, zu den Wurzeln ihres Berufs zurückzukehren. Wie viele Künstler hatten
im Süden Frankreichs zu ihrer wahren Größe gefunden. Cezanne, Gauguin und van
Gogh hatten ihr vorgemacht, wie man die klaren Farben des Südens einfing. Es
war ein Geschenk, hier arbeiten zu dürfen.
»Rede es
dir nur schön! Du kriegst doch nichts hin«, blökte eine hysterische Stimme in
ihrem Innern. »Du machst deinen Job nicht. So wie im Studio. Du hättest in Köln
längst fertig sein können. Stattdessen hast du den Rapport zum Thema
Wohnaccessoires nicht mal aufgeschlagen.«
»Stimmt«,
gab Kiki unumwunden zu. Mit der inneren Stimme zu diskutieren, war ihre Sache
nicht. Wozu rumreden? Sie wussten beide, dass sie recht hatte. Aber es gab
einen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen. Die Stimme zählte nur die
Niederlagen, Kiki ausschließlich Möglichkeiten: »Alle Büros kaufen denselben
Rapport. Die Designer lernen ihn auswendig, und alle kommen mit denselben Entwürfen.«
»Du redest
dich raus, Kiki. Wie immer, Kiki«, quäkte die Stimme weiter. »Du lässt die
letzte Möglichkeit vorüberziehen, Kiki. Du glaubst nicht im Ernst, dass du in
sieben Tagen hinbekommst, wofür andere ...«
»Vier
Tage. Ich habe noch vier Tage«, fiel Kiki der Stimme ins Wort.
»Du hast
deine Zeit in Köln mit Max vertan. Du vertust sie hier. Und jetzt ist es zu
spät«, schraubte sich der Terrorist im Innern zu immer neuen Gräuelbildern
hoch. Es war gut, dass Kiki ihn nicht sehen konnte. Vermutlich hatte er panisch
geweitete Augen, ruderte aufgeregt mit den Armen und hatte
Herzrhythmusstörungen.
»Am Ende
hast du nichts. Keine Karriere, keinen Mann, kein nichts. Das war deine letzte
Chance.«
»Halt
einfach die Klappe«, verwies Kiki den Zensor im
Weitere Kostenlose Bücher