Peetz, Monika
dazu kam, sich zu fragen, wie Arne in dieses Bild passte. Die Gesichter
erzählten von Krankheit, Alter und Tod. Berührt sahen Judith und Eva auf die
Menschen: eine bleiche, hohläugige Frau, die auf permanente Sauerstoffzufuhr
angewiesen war, ein greisenhafter Mann mit unzähligen Linien im Gesicht, der
im Rollstuhl seine Krücke umklammerte, eine Frau, deren Gliedmaßen ein
spastisches Eigenleben führten, dazwischen ein graues Ehepaar, das müde seine
schwerstbehinderte Tochter fütterte. Das Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen,
den Sommersprossen und den munteren Augen hing komplett schiaffin ihrem bunt
gespritzten Rollstuhl. Fröhliche Buchstaben hüpften auf der Rückenlehne:
Celine. Eva tippte auf eine progressive Muskelerkrankung. Kein Wunder der Welt
konnte diese Erkrankungen heilen.
»Sie
kommen nicht nach Lourdes in der Hoffnung auf Genesung«, erläuterte die
Häubchenträgerin, als könne sie Gedanken lesen. »Sie kommen, weil es ihnen
Trost gibt. Weil sie sich weniger alleine fühlen.«
Die Frau
flog unermüdlich durch den Saal. Es galt Tische ein- und abzudecken, Brot zu
schneiden, Geschirr zu spülen, ein Kinn abzuwischen und verhakte Rollstühle zu
befreien. Endlich die erlösenden Worte.
»Da ist
Dominique«, wies sie in Richtung Essensausgabe. Judith blieb der Mund offen
stehen. Ungläubig starrte sie in Richtung Dominique. Eva folgte ihrem Blick.
Sie war nicht weniger überrascht.
Dominique
war ein groß gewachsener Mann um die siebzig. Ein Kerl wie ein Baum mit kurz
geschorenen grauen Stoppelhaaren, scharfen Linien im Gesicht und kraftvollen
Bewegungen. Er ließ es sich nicht nehmen, mit einem Stück Kuchen, auf dem eine
einzelne Kerze brannte, und einem donnernden Ständchen einem seiner Gäste
höchstpersönlich zum einundneunzigsten Geburtstag zu gratulieren. Die
Jubilarin, eine verschmitzt dreinschauende, verschrumpelte Frau, versank vor
Rührung in ihrem Rollstuhl. Erst dann kam Dominique auf seine unangekündigten
Besucher zu.
»Judith
Funke«, stellte Judith sich vor. Der Mann war deutlich nicht das, was sie
erhofft und erwartet hatte. Verwirrt streckte sie ihm die Hand hin. Sie blieb
im Raum schweben. Dominique ergriff sie nicht. Das höfliche Lächeln, das eben
noch auf seinem Gesicht stand, verschwand.
»Sie haben
sich in der Adresse geirrt«, fertigte er sie barsch ab.
»Es geht
um meinen Mann, um Arne. Sie kennen Arne«, haspelte Judith nervös. »Wir haben
sein Foto gesehen. Im Gang. Sein Tagebuch hat uns hierhergeführt.«
Es war
offensichtlich, dass Dominique genau wusste, von wem die Rede war. Genauso
offensichtlich war auch, dass er nicht das geringste Interesse hatte, sein
Wissen mit Judith zu teilen.
»Es tut
mir leid«, beendete er das Gespräch, »ich muss mich um unsere neu angekommenen
Pilger kümmern.« Beherzt packte er die Griffe eines Rollstuhls und schob den
überrumpelten Mann, der sich bislang gut alleine zu helfen wusste, in rasender
Geschwindigkeit an einen freien Platz am Achtertisch. Der Rollstuhlfahrer
wollte aufbegehren: Er hatte sein Morgenmahl bereits eingenommen, aber Dominique
blickte so grimmig, dass er spontan beschloss, es sei Zeit für ein zweites
Frühstück.
Judith war
sprachlos über die unerwartet derbe Abfuhr. Eva sprang ihrer Freundin bei und
Dominique hinterher. »Judith hat bereits herausgefunden, dass etwas nicht
stimmt mit dem Pilgertagebuch ihres Mannes. Sie will die Wahrheit wissen.«
»Früher
hat es Ihre Freundin auch nicht interessiert, was Arne umtreibt.«
Dominique
war ein Mann mit klaren Meinungen. Vom mildtätigen Gutmenschen, den man in
einer solchen Einrichtung erwartete, war er weit entfernt. Eva ärgerte sich
über den schroffen Mann. Was bildete der sich ein? Energisch ergriff sie
Partei für die Freundin, die mit wachsender Panik dem Gespräch folgte.
»Wieso
sagen Sie so was? Sie kennen Judith überhaupt nicht.«
»Arne war
mein Freund«, platzte Dominique heraus.
Seine
Stimme versagte. Nur mit Mühe konnte er weitersprechen. »Ich wünschte, er wäre
mit mir nach Santiago de Compostela gekommen. Aber nein, er musste zu dieser
Frau zurück.« Mit seinem Finger wies er auf Judith, als wolle er sie
durchbohren.
»Ich will
weg hier, Eva. Komm«, flehte Judith.
Doch Eva
insistierte. Mit verschwommenen Andeutungen gab sie sich nicht zufrieden:
»Wovon reden Sie die ganze Zeit?«
»Davon,
dass Arne ein Narr war. Alles hat er seiner Frau verziehen. Sogar den
Liebhaber.«
»So ein
Unsinn. Judith, sag ihm, dass
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