Peetz, Monika
des Weges an. Nur der
leere Kopf blieb ein frommer Wunsch. Was sie wohl bei Dominique erwartete? Eva
war nicht in der Lage, das umzusetzen, was sie ihren Kindern so gerne predigte:
»Beschäftige dich nur mit den Problemen, die du hast, und nicht mit denen, die
du bekommen könntest.«
Was war
eigentlich mit Problemen, die einen aus der Vergangenheit einholten?
»Bist du
sicher, dass du dir das antun willst?«, erkundigte Eva sich bei Judith. Da
standen sie bereits vor dem großen Portal. Eva hatte mit allem gerechnet. Mit
einem kleinen Privathaus, mit einer Wohnung in einer Neubausiedlung, aber
nicht mit einem monströsen Bau, der frisch renoviert schien. Die
gründerzeitliche Fassade strahlte in neuem Glanz. Nur das Gusseisen des großen
Eingangstors rostete malerisch vor sich hin.
Judith
zögerte keinen Moment. Sie klingelte selbstbewusst an.
»Wenn Arne
mich betrogen hat ...« Sie bekam den Satz nicht zu Ende. »Ich will die Wahrheit
wissen, Eva«, presste sie hervor.
»Arne ist
tot. Was ändert das?«, probierte Eva es ein letztes Mal.
»Alles.
Alles. Alles«, verkündete Judith. Ihr Tonfall wirkte fast heiter.
Eva kam
nicht mehr dazu, sich über diese merkwürdige Antwort zu wundern. Das Haupttor
öffnete sich. Eine Dame im überknielangen blütenweißen Schürzenkleid eilte mit
energischen Schritten über den Kies der Einfahrt. Auf dem streng nach hinten
gebundenen, betonierten Haar thronte ein Schwesternhäubchen. Mit jeder Faser
ihres Körpers drückte sie aus, wie tüchtig sie war.
Die Frau
empfing sie mit einem Schwall unverständlicher französischer Wörter. Ihre
Stimme war tief und verraucht und verriet ein bewegtes Leben jenseits der
adretten Uniform. Eva und Judith verstanden nichts. Nur das Fragezeichen am
Ende des Satzes war deutlich herauszuhören.
»Dominique?«,
krächzte Judith.
Die Frau
zog streng die Augenbrauen hoch.
»Vous etes
Dominique, Sie sind Dominique«, konstatierte Judith, diesmal mit fester Stimme.
Die Frau
brach in donnerndes Gelächter aus. Sie konnte sich kaum beruhigen, so absurd
fand sie Judiths Idee. Sie gab ihnen ein Zeichen, ihr über den Hof zu folgen.
Eva sah
die Behindertenbusse auf dem Parkplatz. Allesamt mit deutschen Kennzeichen. Im
Schuppen ein paar Rollstühle. Und hier sollte Arne Urlaub gemacht haben? Der
Arne, den sie kannte, hatte eine schwere Allergie gegen Krankenhäuser und tat
alles, um sich seine Krankheit nicht anmerken zu lassen. Aber kannte sie Arne
überhaupt? Kannte sie die Freundin?
63
Judith
würgte. In den hohen Gängen hing der Geruch von Desinfektionsmitteln, Urin und
frischem Kaffee. Judith und Evas Wanderschuhe entlockten dem dreckig braunen
Linoleumboden bei jedem Schritt ein Seufzen. Was war das: Ein Hotel? Ein
Sanatorium? Eine Art vierter Stock?
»Wir
verstehen uns als eine Verlängerung der Krankenherbergen in Lourdes«, erklärte
die patente Schwester, die inzwischen rausgefunden hatte, dass Eva und Judith
aus Deutschland kamen. Ihr Deutsch war wesentlich verständlicher als ihr
Französisch. In der Gewissheit, anderswo dringender gebraucht zu werden,
ratterte sie ihre Worte runter, während sie durch den Gang eilten. »Wir kümmern
uns um Wallfahrer, die ein paar Tage länger in der Gegend bleiben wollen. Für
viele Kranke ist diese Pilgerfahrt der einzige Urlaub, den sie je machen
werden.«
An den
Wänden lehnten geklappte Rollstühle. Darüber die ewiggleichen Gruppenbilder von
den Lourdesbesuchen ihrer Gäste in immergleicher Aufstellung: In der ersten
Reihe posierten die Rollstuhlfahrer, dahinter alle, die auf eigenen Beinen
stehen konnten, in der dritten Reihe, stehend auf einer Bank, die Begleiter in
den Uniformen der verschiedenen Hilfsorganisationen. Im Hintergrund die Rosenkranzbasilika.
Und dann der Schock. Zwischen den Gruppenfotos ein Porträt von Arne.
Selbstbewusst und fröhlich lachte er Judith und Eva entgegen. Über der Schulter
trug er lässig einen Rucksack, an dem eine Jakobsmuschel baumelte. Sie waren
richtig. Nichtdominique öffnete schwungvoll die Flügeltüren des Speisesaals.
Betroffen
sahen Judith und Eva sich um. An runden Achtertischen nahmen überwiegend alte
und kranke Menschen ihr Frühstück ein. Die meisten Gäste brauchten Hilfe, die
von einer ganzen Brigade von Häubchenträgerinnen geleistet wurde. Manche sahen
so aus, als wären sie nicht nur auf ihrer einzigen, sondern auch auf ihrer
letzten Reise. Eva war so ergriffen von dem, was sie hier sah, dass sie gar
nicht
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