Peetz, Monika
niemanden straflos tritt.
Caroline
hatte nicht das geringste Bedürfnis, Judith zu verstehen. Ihr Puls pochte, ihr
Atem raste, das Herz sowieso, die Beine marschierten und die Gefühle liefen
Amok. Kein gutes Haar konnte sie an der Freundin lassen. Judith war eine Serienlügnerin.
Immer gewesen. Sie hatte Kai hintergangen, Arne betrogen und die Freundschaft
der Dienstagsfrauen mit Füßen getreten. Und schaffte es gleichzeitig, sich als
hilfloses Opfer zu verkaufen. Sie ging den Weg des geringsten Widerstands und
nahm sich rücksichtslos, was sie wollte. Hinter ihrem Rücken. Sie saß Probleme
aus, bis ein anderer kam und sie für sie löste. Nein, Caroline wollte nicht
vernünftig sein. Sie bereute jede einzelne Sekunde, in der sie Judith zur Seite
gestanden war. Sie hatte genug vom Terror der Schwachen, den Judith bis zur
Perfektion beherrschte.
Der
schiere Wille, wegzulaufen, übertünchte alles. Caroline hetzte in der prallen
Hitze weiter. Durch Dornen, Brennnessel, Gestrüpp. Bis sie sich vor lauter
Seitenstechen nicht mehr rühren konnte. Der Schweiß lief ihr über das Gesicht
und den Rücken. Caroline rang um Atem und Fassung. Judith, die aufgeholt
hatte, griff schüchtern nach dem Gepäck, das Caroline abgelegt hatte. Glaubte
sie wirklich, dass sie Caroline besänftigen konnte, wenn sie ihr die Last
abnahm? Judith war nicht nett, sie wollte nett gefunden werden. Caroline riss
an den Trägern. Einen Moment rangen sie um den Rucksack. Als Judith ihn
plötzlich freigab, geriet Caroline aus der Balance, versucht sich zu fangen,
stolperte über einen Stein und knallte seitlich auf den felsigen Boden. Mühsam
rappelte sie sich hoch und kämpfte sich weiter.
Ihr Knie
brannte wie Feuer. Es war angenehm, dass sich zu der Seelenpein der körperliche
Schmerz gesellte. Es war was dran an dem dummen Spruch: Das Einzige, was wirklich
gegen einen Kater hilft, sind Zahnschmerzen.
»Du
blutest, Caroline«, rief Judith.
Das Blut
quoll unaufhörlich hervor, färbte die Hose vom Knie bis zum Unterschenkel.
Caroline wollte sich keine Schwäche zugestehen. Nicht vor Judith. Bis es nicht
mehr ging. Erschöpft ließ sie sich in den Straßengraben sinken. Eine Sekunde
später war Eva neben ihr. Energisch schob sie Judith zur Seite.
»Ich
kümmere mich darum«, herrschte sie Judith an.
»Ich will
nur helfen.«
Eva
reagierte ungehalten: »Lass sie einfach in Ruhe, Judith.«
»Du hast
gesagt, ich muss Caroline die Wahrheit sagen«, jammerte Judith, als wäre Eva
für den Ärger verantwortlich, den sie mit Caroline hatte.
»Das habe
ich. Aber was sie damit anfängt, ist alleine Carolines Sache. Nicht deine.«
»Ich will
mich entschuldigen.«
»Caroline
will die Entschuldigung nicht annehmen.«
Caroline
war glücklich, dass Eva für sie das Wort führte. Sie hatte ihre Gefühle nicht
unter Kontrolle. Als sie im Stall Judiths Stimme hörte, hatte es ihr den Boden
unter den Beinen weggezogen. Es war, als ob sie aus sich selbst heraustrat.
Die Caroline, die Sätze sagte wie »Ich bin mit meinem Leben zufrieden«, hatte
ihren Körper verlassen und mitleidig auf die jämmerliche Gestalt geblickt, die
zurückblieb. Ihr Leben hatte eine Scheidungslinie bekommen. Was auch immer
passierte: Es würde ein »Vor Lourdes« und ein »Nach Lourdes« geben.
Das
Desinfektionsmittel fraß sich in die Wunde und lenkte sie von ihren schwarzen
Gedanken ab. Eva verarztete die Wunde, so gut es ging. Es tat weh. Aber
Caroline wollte nicht weinen. Nicht um Philipp. Nicht um Judith. Nicht um das
Auseinanderbrechen der Dienstagsfrauen.
Judith,
die unschlüssig auf der Lippe herumbiss und auf ein versöhnliches Zeichen wartete,
begriff, dass sie weder erwünscht noch nötig war. Beleidigt zog sie weiter.
69
»Nichts
mehr zu retten«, stöhnte Kiki. Damit meinte sie nicht die Dienstagsfrauen. Alle
Klebe- und Restaurationsversuche waren gescheitert, der Entwurf verloren. Es
war der Abend vor der letzten Etappe und ein Beisammensein, das diesen Namen
nicht verdiente. Die Atmosphäre war geladen von der Katastrophe, die die
Dienstagsfrauen ereilt hatte. Am offenen Feuer vor der Unterkunft verbrannte
Judith stumm das Tagebuch. Seite für Seite. Der Rauch biss in ihren Augen.
Estelle und Eva, beide mit einem Glas Wein in der Hand, sahen schweigend zu.
Was sollten sie schon zu Judith sagen?
Kiki und
Max saßen ineinanderverknotet und waren vor allem mit ihren eigenen Problemen
beschäftigt. »Es ist ein Segen, dass deine Entwürfe
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