Peetz, Monika
leer.
Außer den Dienstagsfrauen hatte nur noch ein einsames Ehepaar, das außer dem
Ehering nichts mehr zu verbinden schien, den Weg nach oben gefunden.
Schweigend tranken die beiden aus einer Thermoskanne. Die Stimmung war mies,
das Panorama unbezahlbar.
Nichts
verstellte hier oben die Sicht. Ungehindert konnte man den Blick
dreihundertsechzig Grad schweifen lassen: Richtung Tarbes, nach Pau, ins Tal
von Argeies Gazost und zu den schneebedeckten Gipfeln der Dreitausender. Davor
die typische Hügellandschaft mit ihrem dichten Bewuchs und den weiten Wiesen.
Lourdes lag unter ihnen. Man konnte die spitzen Türme der Rosenkranzbasilika
erkennen. Davor erstreckte sich eine große asphaltierte Fläche, die ahnen ließ,
für welche Menschenmassen der Wallfahrtsbezirk ausgerichtet war.
Es wäre
der Moment gewesen, in lauten Jubel über das Ende ihrer Reise auszubrechen, die
Faust zu ballen, sich das Trikot über den Kopf zu ziehen. Es wäre der Moment
gewesen, sich gegenseitig lachend in die Arme zu fallen. Dazu war niemand in
der Lage.
Max hielt
den denkwürdigen Augenblick mit Kikis Kamera fest. Was für ein Unterschied zu
dem ausgelassenen Gruppenfoto, das Kiki am ersten Tag mit dem Selbstauslöser
aufgenommen hatte. Jetzt standen Judith und Caroline so weit am rechten und
linken Bildrand, dass sie beinahe aus dem Foto kippten. In der Mitte, Arm in
Arm, Estelle, Eva und Kiki. Die Ereignisse der letzten Tage spiegelten sich in
den Blicken wider. Die Gesichter waren von den Anstrengungen des Weges
gezeichnet, die Haut von der Sonne gegerbt, die Klamotten verstaubt. Eva war
längst nicht mehr die Einzige mit einem praktischen Pferdeschwanz. Niemand
lachte.
Caroline
fühlte sich ausgelaugt und leer. Sie wusste, was sie erwartete: Dort unten war
nicht nur die Grotte der Bernadette. Im Tal warteten störungsfreie Telefone,
Hotels mit schneller Internetverbindung, Züge und Zubringerbusse zu den
Flughäfen Pau und Lourdes. Ein einziger Abend trennte sie von der Rückkehr nach
Köln. Und der Begegnung mit Philipp. Ähnliches stand Kiki bevor. Max hatte
unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er an seinem Plan festhielt: Er
würde Kiki seinen Eltern vorstellen.
»Du siehst
doch, wohin Lügen und Heimlichkeiten führen«, hatte er gesagt. Und Kiki hatte
genickt.
»Es gibt
hier oben eine Höhle, die man besichtigen kann«, versuchte Eva die Gruppe
aufzuhalten. Sie klang so enthusiastisch, als wäre sie Hunderte Kilometer
gelaufen, nur um diese eine Höhle zu erkunden.
»Wir haben
es geschafft«, rief Estelle. »Ich habe überlebt! Ein Königreich für ein warmes
Schaumbad!« Estelle gab das Signal, die letzten Meter anzupacken. Kiki und Max
folgten als Erste. Sie mussten die Entwürfe, die klar, eindeutig und stark auf
dem Papier standen, sofort zu Thalberg nach Köln faxen.
»Wir
könnten hier oben wenigstens was trinken, oder?«, versuchte Eva es noch einmal.
»Machen
wir in Lourdes«, meinte Estelle. »Wer hat schon Lust auf einen Imbiss, wenn das
Ende der Qual zum Greifen nahe ist?«
Eva fühlte
auf einmal eine Hand, die sich in die ihre schob.
»Angst
anzukommen?«, flüsterte Caroline, die genau wusste, was Eva bewegte. Eva nickte
dankbar.
»Was kommt
eigentlich nach dem Ziel?«, fragte sie.
Caroline
zuckte mit den Achseln. Gut, dass sie noch einen letzten Abend hatten. Das
Programm stand fest, bevor sie losgelaufen waren. Sie würden bei der
allabendlichen Lichterprozession im Wallfahrtsbezirk ihrem Pilgerweg ein
feierliches Ende setzen. »Ihr sollt in Prozessionen kommen«, hatte Maria durch
Bernadette wissen lassen. Und die Dienstagsfrauen würden kommen.
72
»Was ist
das? Das Disneyland der Katholiken?«
Estelle
war fassungslos. Blaues Neonlicht strahlte aus den Souvenirläden auf die
schmale Gasse. Blau wie die Schärpe der Jungfrau Maria, die in tausendfacher
Ausführung auf Käufer wartete. Aus jedem zweiten Geschäft klang andere Musik.
Nach Tagen der Einsamkeit und Stille war Lourdes ein Schock für die
Dienstagsfrauen. Entgeistert lief Estelle an der langen Reihe von Geschäften
entlang, die sich »Alliance Catholique«, »Palais du Rosaire« oder ganz nüchtern
»Deutsches Kaufhaus« nannten und alle dieselben Devotionalien an den Pilger
loswerden wollten. In der engen Rue de la Grotte war die Jungfrau Maria
tausendfach vertreten. Sie prangte auf Postkarten, Heiligenbildchen, Medaillons
und Pfefferminzbonbons, lag als Plastikflasche in Weidenkörben, betete stumm
als Statue
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