Peetz, Monika
sympathisch.
Ähnlich
wie Tomassi ein Jahrhundert zuvor, war sie beeindruckt von den Menschen und
Massen, die hier zusammengekommen waren. Caroline schätzte, dass es zwanzigtausend
Menschen waren, die sich auf dem Platz versammelt hatten. Noch nie hatte sie so
viele alte, kranke und hilfsbedürftige Menschen, noch nie Tausende von
Rollstühlen auf einem Fleck gesehen. Es musste Hunderte dieser blauen Rikschas
geben und Hunderte von freiwilligen Helfern, die bereit waren, sie zu ziehen.
Vor ihr standen Angehörige des Lourdes Verein Westfalen, die am Morgen mit
zwölf Liege- und Lazarettwagen für Schwerstkranke aus Deutschland angekommen
waren. Manche Pilger waren so krank, dass sie auf Liegen in der Prozession
mitgeschoben wurden, die baumelnde Infusion über dem Kopf. Überall wuselten die
Ehrenamtlichen in ihren Uniformen herum, um zu helfen. Sie schienen genau zu
wissen, wie der Platz zu füllen war, sodass alle Rollstühle und blauen Wagen
untergebracht werden konnten. Den Bedürftigen war der Platz an der Spitze der
Prozession vorbehalten. Direkt hinter der beleuchteten Madonna, die die
Gläubigen anführte.
Caroline
war ergriffen von dem zarten Marienlied, das aus den Lautsprechern klang. Zu
der hellen, klaren Stimme, die das Lied anstimmte, gesellten sich immer mehr.
Das verhaltene Marienlied schwoll an zu einem mächtigen Chor, der der
tonangebenden Stimme immer ein Stück hinterherhinkte und sie zum Schweben
brachte. Beim Refrain reckten sich die abertausend Kerzen, deren Flammen von blau-weißen
Papierrosetten geschützt wurden, in den Sternenlosen Abendhimmel.
»Ave.
Ave. Ave. Ave Maria.«
Caroline
verschmolz im Lichtermeer der Kerzen und in dem Lied, das sie warm umfing. Sie
konnte es nicht verleugnen: Sie, die nie hatte pilgern wollen und die mit dem
Katholizismus nichts am Hut hatte, war ergriffen von der Stimmung des Abends
und der Magie des Platzes um die große Basilika. Eva war im Gewühl
verschwunden, Kiki und Max auf der Balustrade allenfalls ahnbar. Und doch waren
sie miteinander verbunden durch die religiöse Zeremonie.
Und da war
wieder die Mariengestalt, die durch die Menge getragen wurde. Und diesmal
schien sie Caroline offen zuzulächeln. Tränen liefen über Carolines Gesicht.
Die sie hastig wegwischte. Bis sie sah, dass ihr Nachbar, ein großer schwarzer Priester
in farbenprächtigem Ornat, genauso weinte. Es war Caroline nicht mehr wichtig,
ob jemand ihre Tränen sah. Sie weinte und lachte gleichzeitig.
Es war
egal, was an der Geschichte von den Visionen der Bernadette stimmte. Es war
egal, was die Souvenirgeschäfte um den heiligen Bezirk aus Bernadette und Maria
machten. Das, was sie an diesem Abend auf dem Platz erlebte, hatte seine eigene
Wahrhaftigkeit. Hier ging es nicht um unverständliche Dogmen und spektakuläre
Heilungen. Hier ging es um die kleinen Gesten der Menschlichkeit. Einen Kranken
zu begleiten, einen Rollstuhl zu schieben, die Rikscha zu ziehen, eine Hand
festzuhalten. Vielleicht waren das die wirklichen Wunder, die man mit nach
Hause trug.
75
Der
Abschied von Lourdes kam schneller, als Caroline es sich in dem magischen
Moment auf dem Platz wünschte. Die Ankunft im Hotel war hektisch. Das Hotel La
Solitude erschlug sie fast mit seinem Pilgertrubel. Caroline hatte das Gefühl,
dass alle dreihundertsechsundfünfzig Zimmer des Hotels besetzt sein mussten.
Gruppenweise drängelten sich die überwiegend älteren Pilger in der Bar, dem
Souvenir- und Kleidungsgeschäft in der Lobby und vor den fünf
Hochgeschwindigkeitsaufzügen. Der einzige ruhige Ort war die Dachterrasse, die
zum Minischwimmbad auf dem Dach des Hotels gehörte. Einzig ein sommersprossiger
niederländischer Junge tobte trotz der späten Stunde ausgelassen im Becken
herum und tauchte unermüdlich nach Gegenständen, die seine Mutter ihm ins
Wasser warf Was dieses ausgelassene Paar wohl in Lourdes suchen mochte? Nach
einer Stunde waren auch diese beiden verschwunden.
Tief unter
ihr glitzerte der Fluss Gave. Die beleuchteten Fassaden der Hotels und die
Neonreklamen der Geschäfte spiegelten sich im Wasser. Eine Gruppe schlenderte
über die Brücke zu ihrer nächtlichen Unterkunft.
Dem
letzten Glas Wein auf dem Dach folgten eine unruhige Nacht und ein hektisches
Frühstück am nächsten Morgen, inmitten von Hunderten von Pilgern. Caroline war
erleichtert, als sie auf die Straße traten. Ein Auto hupte.
»Überraschung«,
rief eine bekannte Stimme. Eva schossen sofort die Tränen in die
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