Peetz, Monika
Judith
hatte reinen Tisch gemacht. Und hielt die Konsequenzen aus. Wie hatte der
dämonische Pilger ihr mit auf den Weg gegeben: »Die Wahrheit, die man in sich
findet, ist nicht immer angenehm.«
Inzwischen
hatte sie begriffen, dass sie keine Angst vor dem Pilger hatte, sondern vor
ihren eigenen Geheimnissen. Sie hatte gebeichtet. Doch die Erlösung war nicht
gekommen. Ihr bisheriges Leben war von einem Orkan weggefegt worden. Hier im
Lichtermeer war es ruhig. Wie im Auge des Sturms. Jeder Schritt, den sie von
hier aus tat, führte zurück in den Windstrudel.
Judith war
bereits bei der Grotte gewesen, hatte ihre Hand über den sagenumwobenen Stein
gleiten lassen und sich gefragt, warum Maria sie nach Lourdes geholt hatte.
Maria, die aus ihrer Nische in der Felswand auf Wallfahrer und schaulustige
Touristen herabsah, blieb stumm, so wie sie den ganzen Weg stumm geblieben war.
Die spirituelle Erhebung des Pilgers blieb ihr auch in der Grotte von Lourdes
versagt. Judith hatte keine Ahnung, wohin ihr Weg sie führen würde. Alles
schien offen.
Als Judith
von den Opferkerzen aufsah, bemerkte sie, dass sie nicht mehr alleine war.
Neben ihr entdeckte sie Celine in ihrem knallbunten Rollstuhl. Feierlich
stellten ihre Eltern eine Kerze auf. Die gelben Lichter tanzten auf dem Gesicht
des Kindes, das vor Erschöpfung eingeschlafen war. Ihre nassen Zöpfe baumelten
unter einer Pudelmütze hervor. Sie war wohl gerade aus einem der Bäder
gekommen.
»Trinke
von der Quelle und wasche dich dort«, hatte Bernadette aus dem Mund Marias
gehört. Judith hatte staunend das Gerangel von Menschen gesehen, die
versuchten, einen der begehrten Plätze auf den Holzbänken zu ergattern, die
garantierten, dass man tatsächlich in eines der Bäder mit dem zwölf Grad kalten
Quellwasser getaucht wurde. Auch hier, wie überall in Lourdes, hatten
Rollstuhlfahrer, Kranke und Kinder Vorrang.
»Das wahre
Wunder ist, dass nicht mehr Leute in Lourdes krank werden«, hatte Estelle vor
ein paar Stunden gewitzelt. »Das Wasser wird nur zweimal am Tag gewechselt.
Schon bei dem Gedanken, mich in so eine Brühe zu legen, wird mir
grottenschlecht.«
Als Judith
das Ehepaar ansah, begriff sie, dass Estelle unrecht hatte. Das Ehepaar wirkte
ganz anders als vor ein paar Tagen beim Frühstück in Dominiques Unterkunft. Das
Graue war aus ihren Gesichtern verschwunden. Sie sahen entspannt aus, beinahe
fröhlich. Der Gesundheitszustand des Kindes hatte sich kein bisschen verändert.
Und trotzdem wirkten ihre Mienen heller.
Das
Ehepaar schob den Rollstuhl an Judith vorbei, ohne sie wahrzunehmen oder gar zu
erkennen. Sie würden nie erfahren, dass die kleine Celine geholfen hatte,
Judith einen Weg aufzuzeigen. Sie wusste, was zu tun war.
74
Das
Glockenspiel vom Turm der Basilika der unbefleckten Empfängnis schlug. »In
nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti«, hallte es aus Lautsprechern über
den weiten Platz. In der letzten halben Stunde hatte er sich mit Tausenden von
Menschen gefüllt. Kiki und Max hatten einen günstigen Platz auf der Balustrade
der oberen Basilika gefunden, von dem sie einen Überblick über den gesamten
heiligen Bezirk hatten. Bei den Touristen und Schaulustigen fühlten sie sich
wohler als zwischen den Gläubigen, die sich unter ihnen zur Prozession
formierten. Überall Fahnen, Spruchbänder, Flaggen, Tafeln aus Holz und Plastik,
manche beleuchtet von einer Batterie.
Caroline
winkte den beiden zu. Sie hatte sich mit Eva in die Prozession eingereiht und
stand eingeklemmt in einer Gruppe italienischer Pilger der U.N.I.T.A.L.S.I.
aus Ravenna. Die ausgeblichenen Farben des altertümlichen Banners, das sie in
den Abendhimmel reckten, zeugte von einer langen Pilgertradition. Beim Warten
waren sie ins Gespräch gekommen. Caroline hatte belustigt der Geschichte von
Giovanni Battista Tomassi gelauscht, dem Gründer der Pilgerorganisation, der
1903 nach Lourdes gereist war. Mit schwerer Arthritis in den Gliedern und einer
Waffe in der Tasche. Der Mann hatte eine klare Vorstellung, wie das in Lourdes
zu laufen hatte: »Entweder Maria heilt mich, oder ich erschieße mich.«
Am Ende
geschah nichts von beidem. Tomassi war so überwältigt von der Ausstrahlung des
Ortes, dass er es sich fortan zur Lebensaufgabe machte, kranken und bedürftigen
Menschen den Weg nach Lourdes zu ermöglichen. Seine Organisation überlebte ihn.
Bis auf den heutigen Tag. Caroline lachte über die Geschichte. Der wilde
Tomassi war ihr
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