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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Stimme sagte:
    »Guten Abend, Eure Exzellenz.«
    Vor lauter Nervosität hätte Matwej Benzionowitsch ihn beinahe korrigiert und gesagt, er sei doch gar keine Exzellenz – aber er besann sich gerade noch rechtzeitig. Er nickte militärisch knapp, und eine Strähne von engelhafter Farbe fiel ihm in die Stirn.
    Der »Jessaul« (so bezeichnete man offenbar das Amt des Anführers der »Leibgardisten«) kam hinter dem Tisch hervor und trat auf den Staatsanwalt zu.
    Und wieder beging Berditschewski um ein Haar einen Fauxpas – er wollte ihm die Hand geben. Wie sich zeigte, reichte man hier keine Hände, hier breitete man die Arme aus. Genau das tat der Vorsitzende: Mit den Worten »Es lebe Russland« zog er den Gast an seine Brust und küsste ihn dreimal auf den Mund.
    Auch die übrigen Anwesenden wollten den hohen Besuch begrüßen, und jeder von ihnen musste geküsst werden – summa summarum elf Gardisten, und jedes Mal wurde der weihevolle Satz zum Wohle des Vaterlandes aufgesagt.
    Die Gerüche, die Herr Berg-Ditschewski küssenderweise einatmen musste, zeichneten sich nicht durch Verschiedenartigkeit aus: billiger Tabak, rohe Zwiebel und die vom Magensaft modifizierten Dünste des spiritus vini. Allein der Letzte in der Reihe der Küssenden, jener Vergil, der Matwej Benzionowitsch hergebracht hatte, duftete nach Eau de Cologne und Fixateur. Auch küsste er nicht grob schmatzend wie die anderen, sondern sanft und gefühlvoll, mit gespitzten Lippen. Vermutlich ein Friseur, dachte der Staatsanwalt, als er die ondulierten Koteletten und den sorgfältig nach beiden Seiten gebürsteten Bart sah.
    »Bitte belieben hier Platz zu nehmen«, bot der Jessaul dem Herrn den Ehrenplatz an.
    Alle Blicke richteten sich auf die »Exzellenz«, offenbar erwartete man eine Rede oder ein Grußwort von ihm. Darauf war der Staatsrat nun absolut nicht vorbereitet. Doch er lavierte sich heraus, indem er einfach bat, normal fortzufahren, »alldieweil ich nicht zum Reden, sondern zum Hören gekommen bin, und nicht zum Belehren, sondern zum Lernen.« Das kam gut an. Man applaudierte dem bescheidenen »General«, rief »Chapeau«, und der Vortrag wurde fortgesetzt.
    Der Redner, den Berditschewski nach seiner Art zu sprechen und nach dem etwas blökenden Timbre seiner Stimme für sich den Psalmisten taufte, berichtete seinen Genossen von den Ergebnissen einer von ihm durchgeführten Untersuchung über die Dominanz der Juden in der Gouvernementspresse.
    Es zeichnete sich ein ungeheuerliches Bild ab. Als der Psalmist auf das »Shitomirer Tageblatt« zu sprechen kam, konnte er ein Beben in seiner Stimme nicht unterdrücken: Dort wimmele es nur so von »Rosenkranz« und »Goldbergs«, die frech und dreist alles verhöhnten, was einem russischen Herzen lieb und teuer sei. Doch auch bei den »Wolhynischen Gouvernements-Nachrichten« stehe es bei weitem nicht zum Besten. Der dortige Chefredakteur sei so pflichtvergessen, dass immer wieder Artikel gedruckt würden, deren Verfasser Juden seien, die sich hinter russischen Namen versteckten. Es wurde auch gleich eine Liste all dieser Wölfe im Schafspelz mitgeliefert: Iwan Swetlow – ist gleich Itzak Sarkin, Alexander Iwanow – ist gleich Moische Lewinson, Afanasi Berjoskin – ist gleich Lejba Rabinowitsch, und so weiter und so weiter. Die sensationellste seiner Enthüllungen aber hatte der Referent sich bis zum Schluss aufgehoben. O ja! Das Synedrion hatte seine Fühler sogar nach den »Wolhynischen Eparchiats-Nachrichten« ausgestreckt! Die Gattin des Redakteurs, des Protopopen Kapustin, war eine geborene Fischman, mithin eine Konvertitin!
    Ein dumpfes Rumoren der Empörung rollte durch den Raum. Auch Matwej Benzionowitsch schüttelte bekümmert den Kopf.
    Der Jessaul beugte sich zu ihm und flüsterte:
    »Wir sammeln gerade Material für eine Petition. Wenn Sie erst die Daten über das Finanzkapital und die Volksbildung sehen! Es läuft Ihnen kalt den Rücken herunter!«
    Der Staatsanwalt setzte eine finstere Miene auf: schlimm, schlimm.
    Der Referent hatte geendet und setzte sich auf seinen Platz.
    Wieder starrten alle erwartungsvoll auf den Gast. Es war klar, dass er sich nicht länger um einen Auftritt drücken konnte.
    Da fiel ihm gerade zum richtigen Zeitpunkt eine alte Volksweisheit ein: Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, sag die Wahrheit.
    »Ja, was soll ich sagen«, begann Matwej Benzionowitsch und stand auf. »Ich bin erschüttert und bedrückt.«
    Die Antwort war ein allgemeines

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