Pelagia und der rote Hahn
Benzionowitsch sogleich, als würde er aus dem Dunkel heraus beobachtet. Zuerst überlief ihn ein Frösteln, aber dann sagte er sich: »Natürlich beobachten sie mich, das ist auch gut so.«
Mit einem einfachen Trick überwand der Staatsrat seine Nervosität. Er brauchte nur ein einziges Wort zu flüstern – »Pelagia« –, und die Angst wich augenblicklich der Erregung, aus dem Opfer wurde ein Jäger.
Ungeduldig drehte er den Kopf hin und her, stampfte sogar ärgerlich mit dem Fuß auf: Wo seid ihr, hol euch der Teufel. Es schien, als hätte die Dunkelheit nur auf dieses geheime Signal gewartet. Sie bebte und raschelte, und eine Gestalt glitt in den Dunstkreis des schwachen Kerosinlichts, die Berditschewski im ersten Moment riesenhaft vorkam. Die Silhouette hob die Hand und winkte ihn heran.
Der Staatsrat, den der Mut schon wieder verließ, ging auf den Unbekannten zu, doch dieser drehte sich um, winkte ihn noch einmal zu sich und lief dann vor ihm her, sich von Zeit zu Zeit mit einer geheimnisvollen, lockenden Geste umwendend.
Dumpf tappten die Schritte des Riesen aufs Pflaster, er ging sehr aufrecht, mit kerzengradem Rücken.
Wie ein eiserner Ordensritter, dachte Matwej Benzionowitsch mit Schaudern, während er Mühe hatte, mit seinem Führer Schritt zu halten.
Von der Uferstraße bogen sie in eine gewundene, ungepflasterte Gasse ein. Der Boden war regennass. Auf der einen Seite verlief ein undurchsichtiger Zaun, auf der anderen eine Steinmauer, hinter der sich entweder Lagerhäuser oder Werkstätten befanden. Es gab keinerlei Beleuchtung.
Berditschewski stolperte über ein Schlagloch und fluchte, seltsamerweise flüsternd.
Die Mauer führte zu einem Tor, über dem eine Lampe brannte. »Darmreinigungsfabrik Sawtschuk« stand auf einem Schild.
Der Staatsanwalt las und erblasste. Das schien ihm jetzt aber doch eine rechte Verhöhnung seitens der Vorsehung, um nicht zu sagen eine Grobheit, angesichts der Tatsache, dass sich im Leibe des inzwischen doch recht verzagten Staatsrates alle möglichen unschönen Prozesse völlig unkontrolliert entfalteten.
Der eiserne Ordensritter verschwand durch eine schmale Pforte, Berditschewski aber blieb davor stehen. Mit nicht ganz fester Stimme fragte er:
»Was ist das? Was soll das?«
Er hatte eigentlich nicht mit einer Antwort gerechnet, aber der Hüne (der Bursche war tatsächlich fast einen Klafter groß) wandte sich um und antwortete mit überraschend feiner und dienstbeflissener Stimme:
»Das ist ein Betrieb, in dem Därme gereinigt werden, gnädiger Herr.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich ’s sage. Für die Wursterzeugung.«
»A-ah«, sagte Matwej Benzionowitsch schon ein wenig ruhiger. »Und was wollen wir dort?«
Der Ritter kicherte, womit endgültig klar war, dass sein Schweigen keinen bedrohlichen Hintergrund hatte, sondern nur provinzieller Verlegenheit dem Ortsfremden gegenüber geschuldet war.
»Wie Sie selbst zu sehen belieben, verhält es sich bei uns so: Es gibt mehr Juden in der Stadt als Russen. Deshalb ist dies der ideale Ort. Die Wurst ist doch vom Schwein, also arbeitet hier kein einziger Jude, alle Angestellten sind Russen oder Ukrainer.«
Die geheime Versammlung der »Leibgarde Christi« fand im Kontor der Fabrik statt, einem ziemlich schmutzigen, aber sehr geräumigen Zimmer mit niedriger Decke, von der mehrere Kerosinlampen herunterhingen.
Vor einem Tisch, über den man die russische Trikolore ausgebreitet hatte, waren zwei Stuhlreihen aufgebaut. An den Wänden hingen in wildem Durcheinander Ikonen und diverse Helden des Vaterlandes – wie Alexander Newski, Dmitri Donskoi, Alexander Suworow, Michail Skobelew und so weiter. Den Ehrenplatz in dieser Galerie nahmen die Porträts Iwan des Schrecklichen und Seiner Erlaucht des Imperators ein.
Ein älterer Herr, der ein Jackett und eine schmale Krawatte trug, aber dazu nach traditioneller russischer Art einen schulterlangen Pagenschnitt, führte den Vorsitz der Versammlung.
Vor dem Tisch stand ein dürres Subjekt in russischer Gürtelbluse – offensichtlich ein Redner. Zuhörer gab es etwa ein Dutzend.
Als sie den Raum betraten, drehten sich alle zu ihnen um, aber Berditschewski nahm vor Aufregung die Gesichter nicht im Einzelnen wahr. Die Mehrzahl war offenbar bärtig und ebenfalls nach russischer Art frisiert.
»Da ist ja unser geschätzter Gast«, rief der Vorsitzende. »Seien Sie herzlich willkommen. Ich bin der Jessaul.«
Die »Leibgardisten« erhoben sich, und eine tiefe
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