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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Seufzen.
    »Auch in unserem Gouvernement stehen die Dinge schlecht, aber doch nicht in diesem Maße wie hier bei Ihnen. Meine Herren, es ist furchtbar. Ich sage nur: Heulen und Zähneknirschen. Aber, meine lieben Freunde, erlauben Sie mir dazu ein offenes Wort. Untersuchungen und Petitionen sind selbstverständlich eine gute Sache – aber das reicht nicht. Ich muss gestehen, ich habe von den Shitomirern etwas ganz anderes erwartet. Man hat mir berichtet, hier gebe es Männer der Tat, die es nicht gewohnt sind, die Hände in den Schoß zu legen. Denn wenn ich mein Russland sehe, blutet mir das Herz!« Allmählich kam Berditschewski in Fahrt. »Wohin man auch schaut, nichts als Schwätzer und Maulhelden! Wir setzen leichtfertig unsere Heimat aufs Spiel, meine Herren Patrioten! Wir verplaudern und verschwätzen sie! Aber der Jude verschwendet seine Zeit nicht mit Reden, nein, er plant auf Jahre hinaus!«
    Die Anwesenden hörten die bitteren, tief empfundenen Worte des Redners, sahen einander an und scharrten mit den Stühlen.
    Schließlich hielt es den Jessaul nicht mehr auf seinem Sitz. Bei der nächsten kurzen Pause, die Berditschewski benötigte, um ein weiteres Quantum Luft in seine Lungen zu pumpen, sprang der Anführer der »Leibgarde« auf und rief:
    »Wir sind keine Schwätzer und keine Papierbeschmutzer! Ja, wir hoffen noch immer, uns bei der harthörigen Obrigkeit bemerkbar zu machen, aber ich versichere Ihnen, wir belassen es nicht bei Petitionen!« Der Vorsitzende rang sichtlich um Selbstbeherrschung – so stark war der Drang, sich zu rechtfertigen. »Mein Herr, gehen wir in mein Kabinett und unterhalten uns unter vier Augen. Euch aber, meine Brüder, bitte ich, lasst euch inzwischen schmecken, was Gott uns gereicht hat.«
    Jetzt erst bemerkte Matwej Benzionowitsch in einer Ecke des Raumes einen gedeckten Tisch mit einem Samowar, Brotlaiben und einer imposanten Fülle von Wurstwaren – vermutlich Produkte der Darmreinigungsfabrik.
    Die Männer machten sich lebhaft über die Speisen her, der Staatsanwalt jedoch wurde ins »Kabinett« gebeten – ein enges Gelass, das durch eine Glastür vom Kontor abgetrennt war.
    Alles verloren!
    Jetzt wurden auch Hände gedrückt. Überhaupt ging eine gewisse Veränderung im Verhalten des Jessaul vor sich, als wollte er zeigen, dass er zur selben Gesellschaftsschicht gehörte wie sein Gast.
    »Sawtschuk«, stellte er sich vor. »Ich bin der Eigentümer der Fabrik. Mir ist keineswegs entgangen, Herr Ditschewski, wie Sie meine Janitscharen angesehen haben. Sie sind freilich ein wenig ungeschlacht, und sie glänzen nicht gerade durch große Geistesgaben.«
    Matwej Benzionowitsch erschrak (er hatte geglaubt, seine Gefühle perfekt versteckt zu haben) und machte eine Geste des Protestes.
    »Aber nein«, beruhigte ihn der Fabrikant. »Ich kann Sie sehr gut verstehen. Aber ich bitte Sie zu berücksichtigen, dass sie nun mal keine Ideologen sind, sondern Vorarbeiter, AbschnittsleiteJaël biblisch gesprochen: ›Männer der Kraft‹. Ich nenne sie scherzhaft meine ›Apostel‹ – weil es genau zwölf sind. Es sollte noch einer mehr da sein, aber er hat sich verspätet. Meine Abschnittsleiter sind keine großen Denker, aber wenn es zur Sache geht, dann kann man sich auf sie verlassen. Glauben Sie mir, wir haben auch unsere Intelligenzija – Advokaten, Ärzte, GymnasiallehreJaël sie leiden am meisten unter dem jüdischen Druck. Wenn Sie möchten, werde ich Sie später mit ihnen zusammenbringen, in angemessenerer Umgebung. Ilja Stepanowitsch Glaskow, zum Beispiel, ein guter Bekannter des Stadtoberhauptes, ist ein heller Kopf, ein Denker.«
    »Wissen Sie«, sagte Berditschewski schroff, »Denker gibt es viel zu viele. Was fehlt, sind Männer der Tat. Solche, die keine Angst haben, die sich nicht von Verordnungen und staatlichen Einrichtungen abschrecken lassen. Das sind Eigenschaften, die wir lernen müssen. Ich meine nicht, mit dem Brecheisen herumzufuchteln und jüdische Läden zu demolieren – das ist keine Kunst. Sagen Sie mir geradeheraus, gibt es bei Ihnen Leute, die praktische Erfahrungen haben – Angehörige der Polizei oder des Geheimdienstes? Nach Möglichkeit solche, die nicht mehr im Dienst sind, die also nicht an die Buchstaben des Gesetzes gebunden sind.«
    »Was meinen Sie damit?«, fragte Sawtschuk und machte ein betretenes Gesicht.
    Matwej Benzionowitsch packte den Stier bei den Hörnern:
    »Mein Entschluss, zu Ihnen nach Shitomir zu reisen, geht auf ein sehr

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