Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
unterscheiden. Denn Jude ist man nicht nur durch den Zufall der Geburt, sondern das Judentum bedeutet auch eine bewusste Wahl. Wenn du nicht willst – dann lass es halt bleiben. Lass dich taufen oder zeig einfach nicht mehr, dass du Jude bist, und sofort öffnen sich dir alle Wege. In den Ländern Pojln und Lite, die heute zum Russischen Reich gehören, ist die Lage im Moment noch leidlich, weil dort den Juden, die aufgehört haben, Juden zu sein, trotzdem keine Bewegungsfreiheit gegeben wird, wegen ihrer Abstammung. Im westlichen Europa dagegen steht die Sache sehr schlimm. Im Lande Dajtschland hat Bismarck dem Judentum einen großen Schaden zugefügt, Tausende von Juden haben sich vom Glauben ihrer Väter abgewandt. Böse steht es auch im Lande Zorfoss, dort hat man schon vor hundert Jahren die Gleichberechtigung der Juden ausgerufen. Gott sei Dank haben die dummen Gojim dort einen Prozess gegen den getauften Juden Dreyfus angestrengt, das hat viele Abtrünnige nachdenklich gemacht. Die Feinde der Juden unterteilen sich in zwei Gattungen. Die erste will uns vernichten. Weil GOTT aber SEINE schützende Hand über SEIN auserwähltes Volk hält, braucht man diese nicht zu fürchten. Hundertmal gefährlicher ist die zweite Gattung, weil sie es nicht auf unsere Körper abgesehen hat, sondern auf unsere Seelen. Sie locken uns mit guten Worten und Freundlichkeiten, weil sie wollen, dass wir auf unsere Besonderheit verzichten und aufhören, Juden zu sein. Und viele, sehr viele, lassen sich überreden und werden zu Meschumodim. Ein Meschumed, der das Christentum angenommen hat, ist tausendmal schlimmer als der Schlimmste aller Gojim. Um sich bei seinen neuen Herren einzuschmeicheln, verleumdet er uns und unseren Glauben. Und wenn er unter uns erscheint, dann sät er Zweifel und Versuchung in den Herzen der Kleinmütigen, indem er sich großtut mit seiner Kleidung und seiner gesellschaftlichen Stellung.«
    Raw Schefarewitsch geriet mehr und mehr in Wallung. Seine Augen sprühten das Feuer heiligen Ingrimms, und immer wieder streckte sich der Zeigefinger seiner rechten Hand drohend zur Decke empor.
    »Diese Verräter muss man vertilgen, wie man ein krankes Schaf vertilgen muss, bevor es die ganze Herde verdirbt! Gott der Herr sagt: ›Denn jedem vom Hause Israel, der sich mir entfremdet, dem will ich, der Herr, mich persönlich zur Antwort stellen. Ich richte mein Antlitz auf jenen Mann; ich mache ihn zum Warnzeichen und Sprichwort und rotte ihn aus der Mitte meines Volkes aus. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin.‹«
    Schmulik hielt dagegen: »Gott der Herr hat nicht gesagt ›ausrotten‹ – und Punkt und Ende, sondern ›ausrotten aus der Mitte meines Volkes‹, das heißt: aus dem Volk der Juden vertreiben, und sollen sie ruhig weiterleben, wie sie ’s halt können, nur ohne MICH.«
    Aber das hatte er selbstverständlich nur per Fernsprecher gesagt, sodass der Raw das Argument nicht gehört hatte und weiterdonnerte. Jetzt waren die Zionisten an der Reihe:
    »Wir Juden sind die einzigen Bewahrer des göttlichen Lichts, das ohne unser Volk schon lange verloschen wäre. Wir verändern uns nicht, wir sind noch immer dieselben, die wir zu Zeiten Abrahams und Moses waren. Was aber wollen die Zionisten? Sie wollen, dass die Juden ein ganz gewöhnliches Volk und ein ganz gewöhnlicher Staat werden. Aber gewöhnliche Völker haben keine Dauer, sie kommen und gehen. Wo sind die Moabiter, die Philister, die Assyrer, wo die Babylonier und die Römer, die uns gepeinigt haben? Sie sind schon lange vom Erdboden verschwunden, neue Völker haben sie verdrängt, die Engländer, die Deutschen, die Türken, die Russen. Zwei oder drei Jahrhunderte vergehen, und die Fackeln dieser jungen Völker, die heute noch so hell leuchten, werden erlöschen, und an ihrer statt werden neue, noch hellere aufflammen. Unser Licht dagegen wird weiterleuchten mit derselben stillen, unlöschbaren Flamme wie seit Tausenden von Jahren! Gibt es in der Welt ein anderes Volk, dessen Licht so lange brennt wie unseres?«
    Da hielt es Schmulik nicht mehr aus.
    »Und die Chinesen, Rebbe?«, fragte er laut. »Die Chinesen haben ihre Bräuche genauso lange bewahrt wie wir, vielleicht sogar noch länger. Viertausend Jahre, so lange schon.«
    Von den Chinesen hatte er bei Madame Perlowa in einer Enzyklopädie gelesen.
    Sein Einwand erzielte beachtliche Wirkung, dem Raw begann direkt der Bart zu zittern. Tja, was wird er darauf jetzt wohl antworten, was für

Weitere Kostenlose Bücher