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Pelagia und der rote Hahn

Pelagia und der rote Hahn

Titel: Pelagia und der rote Hahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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immer schweißverklebt waren. Und das war jetzt, im Mai, was würde erst im Sommer werden? Die Hitze im Gelobten Land, sagt man, sei so schlimm, dass, wenn man ein Ei in den Sand steckt, es in zwei Minuten hart gekocht ist. Ob die Heiligkeit des Raw solch einer Prüfung wohl standhalten würde?
    Schmulik betrachtete den in der Klasse auf und ab schreitenden Lehrer und dachte: Er hält stand.
    Jetzt blieb Raw Schefarewitsch neben dem schielenden Lejbl stehen und stieß ihm seinen Zeigefinger in den Nacken.
    »Warum hast du das Kapitel aus der Mischna nicht abgeschrieben, wie ich euch auf gegeben habe?«
    »Ich hatte Bauchschmerzen«, antwortete Lejbl mit hängendem Kopf.
    »Er hatte Bauchschmerzen«, verkündete der Lehrer den übrigen Jeschiwa-Schülern, als hätten sie es nicht selbst gerade vernommen. »Wir wollen das besprechen.«
    Der letzte Satz bedeutete, dass das Lehrgespräch begonnen hatte, gleich würde aus dem Munde des Raw eine Quelle der Weisheit sprudeln.
    Und so geschah es.
    »Es steht geschrieben: Alle Krankheiten ereilen den Menschen als Strafe für seine Sünden. Richtig?«
    Lejbl zuckte mit den Achseln. Dieser Anfang verhieß für ihn nichts Gutes. Raw Schefarewitsch tat, als sei er höchst verwundert.
    »Etwa nicht? Der Kopf tut weh, weil er an Eitles und Unreines denkt. Den Leckermäulern, die viel Zucker knabbern, schmerzen die Zähne. Und einem liederlichen Menschen, der um die unkeuschen Mädchen herumscharwenzelt, fault die Rute ab. Stimmst du mir darin wenigstens zu?«
    Lejbl musste nicken.
    »So ist es gut. Wenn dir der Bauch wehgetan hat, bedeutet das, dass dein Bauch gesündigt hat, weil er etwas Unrechtes gefressen hat. Dein Bauch ist schuld an deiner Krankheit. Richtig? Und wem gehört dein Bauch? Dir. Also bist du selber schuld. Richtig?«
    An Lejbls Stelle würde ich jetzt mit einem Zitat aus »Perlenfelder« von Salomon ben Jehuda Ibn Gabirol antworten, dachte Schmulik: »Ein Dummkopf gibt anderen die Schuld, der Kluge sich selbst, aber der Weise niemandem.« Schmulik hatte seit kurzem die Gewohnheit angenommen, mit seinem Lehrer Dispute zu führen. Das war einerseits für einen Talmudisten eine recht löbliche Angewohnheit, andererseits aber auch nicht ganz ungefährlich, soweit es Rab Schefarewitsch betraf, und deshalb führte der illuj seine Streitgespräche auch nur ganz im Stillen, in Gedanken.
    Lejbl konnte keine Zitate zu seiner Verteidigung anführen, also kriegte er eins mit dem Zeigestock.
    Der Lehrer war heute wieder reichlich schlechter Laune – wie die ganzen letzten Tage. Auch Shimon bekam eins auf die Pfoten, weil er seine Aufgaben ängstlich und unvollständig aufsagte.
    »Hast du alles gesagt, was du weißt?« brummte der Raw mit finsterem Gesicht.
    »Ja, ich habe alles gesagt, was ich weiß«, antwortete Shimon, genau in der vorgeschriebenen Form.
    Aber das half ihm auch nichts.
    »Der Dumme sagt, was er weiß. Der Weise weiß, was er sagt«, donnerte der Lehrer.
    Und Schmulik konterte in Gedanken sofort mit einem anderen Aphorismus: »Die Dummheit schreit, die Weisheit flüstert.« Ausgezeichnete Antwort. Das wäre ein Ding, mit dem Raw zu disputieren, egal über welches Thema. Man würde noch sehen, wer da den Kürzeren zöge. Es gibt so ein Gerät, das nennt man »Fernsprecher«. Das wäre genau das Richtige für einen Disput mit Raw Schefarewitsch: Du kannst alles sagen, und er kommt mit seinem Zeigestock nicht an dich heran.
    Shimon hatte es eigentlich nicht verdient, fand Schmulik, dass er derart eins übergezogen bekam, mit vollem Schmackes. Der arme Kerl heulte jämmerlich auf, und die Tränen schossen ihm aus den Augen. Außer Michl dem Bullen mit seinem dicken Fell hätte keiner von den Jeschiwa-Schülern so eine Exekution ausgehalten, ohne wie am Spieß loszubrüllen.
    Wieder war ihm der verbotene Name eingefallen, schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
    Anscheinend hatte Raw Schefarewitsch an dasselbe gedacht, denn er wählte als Thema für das heutige Lehrgespräch die Abtrünnigkeit.
    »Das moderne Europa«, begann der große Mann, »stellt eine furchtbare Gefahr für das Judentum dar. Früher, als man uns beraubt, ermordet und in Ghettos eingesperrt hat, war es leichter – die Verfolgung hat uns nur geeint. Heute aber haben sich die Regierungen der so genannten fortschrittlichen Länder vom Antisemitismus losgesagt, und die Juden in diesen Ländern sind jetzt in Versuchung geraten, so sein zu wollen wie alle und sich in nichts von den Gojim zu

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